Samstag, Januar 28, 2017

Die Sternstunde der estnischen Aufklärung

Dieser Artikel über das estnische Aufklärungsdienst erschien in Postimees.

Das Informationsdepartment (Aufklärungsdienst, Anm. des Übersetzers) Estlands beobachtete das Treffen einen Mitglieds der Trump-Mannschaft und einem pro-Putin Mitglied der russländischen Duma in einem der osteuropäischen Länder, schrieb die Zeitung Newsweek mit dem Verweis auf einige Leute, die Bezug zu Geheimdiensten haben.

Trumps Rechtsanwalt Michael Koen behauptete gestern (also am 11. Januar 2017, Anm. des Übersetzers), dass er niemals in Prag gewesen war, Trump fügte hinzu, dass der Wert der veröffentlichen Informationen nur das Wert des Papiers sind, auf dem sie gedruckt waren. Laut den Meinungen der Experten, die mit Postimees sprachen, muss man diese Information mit Vorsicht geniessen, denn die Glaubwürdigkeit einiger Teile bezweifelt werden muss und manche Behauptungen widersprechen den Grundsätzen der Geheimdienste.

Nichtsdestotrotz zeigt die gestrige Rede Trumps auf der gestrigen Pressekonferenz ganz klar, dass zumindest ein Teil der Information von den Geheimdiensten stammt. Das zeigt auch der Artikel in Newsweek, in dem das estnische Informationsdepartment genannt wird. In dem Artikel wird verwiesen, dass das Informationsdepartment einen Bericht für die Regierung erstellte, das Russland die größte Sicherheitsbedrohung für Estland, Lettland und Litauen darstellt, was sicherlich keine Neuigkeit für die lokale Bevölkerung ist.

Im grossen und ganzen, dass das Informationsdepartment solche Operation durchführte, zeigt, dass unsere ausländische Partner unsere Auslandsaufklärung hoch schätzen. Auch zeigt es zweifellos, dass die Mitarbeiter unserer Aufklärung sich dort befinden, wo andere nicht sind, deswegen bittet man sie um Hilfe.

Postimees sprach mit vielen Experten über diese Geschichte, laut deren Einschätzung, begann man die Arbeit des Informationsdepartments wert zu schätzen, nachdem der Konflikt in der Ukraine sich entfachte. Bis zu dieser Zeit blieb Estland, wie auch die anderen baltischen Länder Staaten mit einem Thema: sie können darüber erzählen, was im Osten passiert. Nach den Annexion der Krim, änderte sich das Verhältnis seitens der westlichen Geheimdienste erheblich.

Deswegen ist es nicht ungewöhnlich, dass falls ein Staatsoberhaupt frisches Aufklärungsmaterial über Russland braucht, immer häufiger wird die Information benutzt, über die die Geheimdienste Estlands verfügen. Der Grund dafür ist, dass Estland niemals das Interesse an Russland verloren hat, und unsere Geheimdienste haben Geheimnisse, die die Aufklärungsdienste anderer ausländischer Staaten vielleicht schon aufgeben haben.

Eines der Geheimnisse ist, dass die Geheimdienstler Estlands perfekt und bis zu den kleinsten Nuancen die russische Sprache beherrschen, das gibt ihnen ein Vorteil gegenüber den westlichen Partnern, die ausländischen Agenten können Russisch jahrelang lernen, doch verstehen sie nicht den Slang der Geheimdienstler. Ohne jeden Zweifel haben unsere Aufklärer auch andere Geheimnisse, die andere Dienste nicht haben - beispielsweise was die Armee und die Wirtschaft Russlands angeht.

Man kann behaupten, dass wir sogar vor unseren baltischen Nachbarn einen Vorteil haben, die natürlich mehr Kenntnisse in bestimmten Gebieten der Aufklärung haben können, doch die, wie man munkelt, als Partner eher die nordische Länder und Staaten, die weit weg sind, bevorzugen.

Vermutlich fing das erfolgreiche Informationsdepartment auch selbst an, fleissig Daten auszutauschen. Laut einigen Einschätzungen, kooperiert das Department mit 15-20 ausländischen Aufklärungsagenturen, darunter auch mit CIA.

Ein Zeichen der hohen Wertschätzung ist der Besuch des Leiters der US-Geheimdienste James Clapper in Tallinn Anfang August letzten Jahres. In dieser Zeit fanden die Geschehnisse statt, die im Trump-Dossier erwähnt wurden, doch gibt es keine Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen. Postimees wurde gesagt, dass während des Treffens mit der estnischen Regierung Clapper die Arbeit der Geheimdienste unseres Landes lobte, er erwähnte keine konkrete Geschichten, doch in den Augen des Mannes, der über alle Ereignisse des US-Präsidenten, die Geheimdienste betreffen, bescheid weiss, gab es Mehrdeutigkeit.

Darüber welche die größten Siege in der Arbeit des Informationsdepartments waren, wird die Öffentlichkeit Estlands niemals erfahren, denn dass ist die Arbeit der Geheimdienste. Doch alles was man über die Spitze des Eisberges sagen kann: Das Informationsdepartment spielte eine grosse Rolle bei der Enttarnung von Herman Simm und anderer Landesverräter. Welche es genau war, werden wir niemals erfahren.

Mein Gedankengut als Okkupant

Der Artikel ist eine Übersetzung des Artikels von Nikolay Karaev, den ich für den besten russisch-sprachigen Journalisten in Estland halte.

Ehrlich gesagt haben mich nicht die rituelle politische Tänze rund um die bedingungslose Staatsbürgerschaft, sondern ein ganz anderes, viel kleineres und privates Vorkommnis zum Schreiben dieser Kolumne bewegt.

Zur Menschenliebe nicht fähig

Tänze sind etwas wie ein Ritual. Wissen Sie, es gibt noch diese Orte in Afrika: es versammelt sich ein Haufen von halbnackten Leuten in Bambusröckchen mit Nasenringen, sie fangen an zum Schamanengesang Speere zu schwingen, anständige und unanständige Körperbewegungen zu machen, irgendetwas unverständliches zu schreien und den Anschein zu erwecken, etwas allgemeinnützliches zu tun, für das man sie füttern, tränken und heilen sollte und zwar aus Volksmitteln.

Bei allem Respekt zum Premierminister und den anderen Teilnehmern des Schauspiels, es bleibt ein Schauspiel. Eine Zeremonie von der kaum jemandem heiss oder kalt werden sollte. Man möchte rausgehen und schreien: Vielleicht reicht es mit dem Schwachsinn?

Wir „feiern“ dieses Jahr das zehnte - stellt Euch das nur vor - das zehnte Jubiläum der Bronzenen Nächte. Das 25-jährige Jubiläum des neuen Estlands haben wir schon hinter uns gebracht. Wenn ihr Jungs da oben während der gesamten dieser Zeit es nicht geschafft habt ein hundert tausend Leuten ohne Pass (diejenigen, die gezwungen wurden die russische Staatsbürgerschaft zu nehmen noch nicht mitgezählt) die Staatsbürgerschaft zu geben, warum dann jetzt? Es ist zu spät Borzhomi zu trinken, die Nieren sind schon hin und das schon lange (Borzhomi ist ein Heilwasser gegen Nierenschäden, der Ausdruck bedeutet etwas Gutes zu tun, für das es zu spät ist. Anm. des Übersetzers). Kaum jemand wird jetzt euch wegen dem estnischen Pass lieben. Niemand wird jetzt auch böse sein, dass es ohne eine Prüfung keinen Pass geben wird, noch mehr böse sein, als in den 1990ern oder in 2007. Niemand erwartet von euch Gnade oder, es ist schrecklich zu sagen, Menschenliebe. Alle haben längst verstanden, dass ihr zur Menschenliebe kategorisch, katastrophal nicht fähig seid.

Doch das wichtigste - das allerwichtigste - nichts werdet ihr niemandem geben. Ihr werdet es versprechen, aber ihr werdet es nicht geben. Weil ihr Angst habt den chauvinistischen estnischen Wähler zu verlieren. Denn vor 25, 15, ja sogar vor 10 Jahren hätte man noch was tun können. Jetzt seid ihr die Geiseln der nationalistischen Ideologie, die man bei eurem zumindest verständnisvollem Schweigen ausübte.

Es haben faktisch nur die einzelnen nicht geschwiegen. Aber auch die werden jetzt von euch getreten. Denn der chauvinistische Wähler und seine treuen Politiker-Lautsprecher werden aus allen Ecken schreien: „Die Wölfe! Die Wölfe! Die russischen Wölfe kommen!…“

Wenn man lange auf der Illoyalität rumreitet

Es geschah etwas was man die selbsterfüllende Prophezeiung nennt. Es ist ein interessantes Phänomen, über das die Psychologen gerne erzählen: Wenn eine Vorhersage die Leute dazu bringt sich entsprechend zu verhalten, dann trifft die Vorhersage ein. Wenn man z.B. laut über die Inflation schreit, dann stürmen die Leute die Läden und kaufen massig Waren, die Inflation tritt tatsächlich ein.

In Estland ist es wie auf einem Notenblatt. „Diese Russen! Die sind uns gegenüber illoyal! Sie lieben Russland! Wir geben ihnen keine Pässe, wir geben ihnen keine Bürgerrechte!“ Und voilá: viele Russen, die seinerzeit recht loyal waren und zu Russland ein undifferenziertes Verhältnis hatten (öfters kannten sie es gar nicht, denn sie wurden hier geboren und verbrachten hier ihr ganzes Leben), als sie mit so einem offensichtlichen Signal seitens der estnischen Regierung zusammenstiessen, fingen sie gegenüber dem estnischen Staat an so was wie Antipathie zu empfinden.

Was möchten sie denn befehlen zu empfinden, wenn der Staat dich einfach nicht liebt und kein Ereignis ausläßt, um es klar zu demonstrieren? Schauen wir dich an, wie du bist: ein Arbeiter, ein Lehrer, ein kleiner Selbstständiger, der irgendwann mal keine politischen Ansichten hatte, der wegen des Alters und der Arbeit nicht in der Lage war estnisches selgeks (est. Sprache, Anm. des Übersetzers) zu lernen. Hier bist du, der in Sillamäe, in Narva, in Lasnamäe lebt und du hast keine Freunde unter den Esten, und die Esten beeilen sich nicht mit dir Freundschaft zu schliessen, ja und du hast auch keine Zeit für neue Freunde, denn du hast eine Menge zu tun und die Familie zu ernähren. Hier bist du, der nur möchte, dass man dich in Ruhe läßt…

Und hier ist der Staat, der wie die Heldin bei Tschechow, die, wie sie sich erinnern „einen Hering nahm und mit dessen Schnauze mir in die Fresse zeigte“. Doch anstatt des Herings ist es deine Illoyalität. Du bist der Feind. Offen sagt man das nicht, alle sind politkorrekt bis zu geht nicht mehr, in Europa macht man so was nicht, doch sinngemäß bist du der Feind. Du bist schon dessen schuldig, dass du in der UdSSR geboren wurdest und kein Este bist. Du bist der Okkupant! Oder ein Nachkomme des Okkupanten, also doch ein Okkupant. Die fünfte Kolonne, die Gefahr für die nationale Sicherheit. Du hast nichts dagegen, hier Donezk und Krim zu organisieren. Wir werden dich karikaturieren, wir werden über dein Ghetto lachen, du lebst doch im Ghetto, falls du es nicht weisst, wir werden auf dich runterschauen, und wir werden zum Beispiel den Arzneien keine russische Infoblätter beilegen, denn die russischen Alten sollen ihren Platz kennen. Und juristisch wird es alles korrekt sein.

Doch wage es nicht zu hoffen, wir werden dich nicht in Ruhe lassen. Du musst umformatiert werden! Und es entstehen mehrere fast-wissenschaftliche Schulen, deren Vertreter sich nicht schämend in der Presse diskutieren, wie genau man dich umformatieren soll. Vielleicht nicht mal dich selbst, denn du bist nicht mehr korrigierbar, sondern deine Kinder oder Enkelkinder: lasst uns aus ihnen Esten erschaffen, lasst uns mit ihrer Hilfe unsere Demographie retten, zwingen wir sie auf estnisch zu lernen, anstatt sie in der Schule die Sprache zu lehren, und es ist scheissegal, ob sie Nervenzusammenbruch haben, oder sie sitzenbleiben, dafür werden sie unsere Werte haben, nicht die, die du hast. Also nicht die feindlichen. Hast du verstanden?…

Die Prophezeiung hat sich erfüllt!

Und natürlich, ein heiliges Plätzchen kann nicht leer bleiben: die russländische Regierung, die ihre Aufgaben hat, innere und äussere, die dich überhaupt nichts angehen, sie sehen ausgezeichnet wohin sie schlagen können, wo es weh tut und schlagen genau dorthin. Mit Propaganda. Mit „analytischen“ Sendungen von Puschkow. „Talk-Show“ von Solowjew. „Nachrichten“ von Dmitrij Kisiljev. Deine Wut auf Estland, die durch Estland geboren wurde, wird in die benötigte Kanäle, in das richtige Wertesystem umgeleitet, in dem Putin und Trump rechtens sind, Obama und Gayropa links. Das witzigste daran ist, dass du bei dieser Deutung nur ein Nebenprodukt bist. Das Zielauditorium der zentralen Kanäle in Russland lebt in Russland, das Auditorium wird gelehrt sich zu einen und loyal zu sein, und du…, lassen wir dich auch einen von uns zu sein, uns wird es nicht schaden. Je mehr Hölle, je mehr Binarität, je öfters du in den Begriffen „wir und die“ denkst, desto besser.

Auch in Estland gibt es genügend Befürworter desselben Wertesystems „wir und die“. Nur, was bei den Jungs „wir“ sind, sind bei den anderen Jungs „die“ und umgekehrt. Man sagt, dass schwarz-weisse Brillen das Leben sehr erleichtern: mit dem Kopf braucht man nicht mehr zu denken.

Doch wenn vor 25, 15 oder erst recht vor 10 Jahren die Politiker, diejenigen, die an der Macht waren, die Reformisten, obwohl das System alle Teilnehmer, selbst die Opposition nicht schlecht fütterte, tränkte und heilte, anstatt gegenseitigen Hass anzufachen, ihn löschen würden, wenn damals unter entsprechenden Bedingungen die bedingungslose Staatsbürgerschaft geben würde, die Befürworter des schwarz-weissen Wertesystems würden kaum so eine reiche Ernte einfahren.

Doch unsere Politiker zogen die selbsterfüllende Prophezeiung vor. „Wir geben ihnen keine Pässe, sie sind illoyal!“ Sind sie denn wirklich illoyal? „Lasst uns ein Viertel Jahrhundert warten… Wow, schaut mal, diejenigen ohne die Pässe, schaut mal wie illoyal die sind! Wir haben alles richtig gemacht, alles richtig!“ Wie man in dem Film „Klassik“ sagte: „Eine sehr schöne Kombination…“

Angenommene Fremde und was tun mit ihnen

Aus der Sicht der Psychologie ist der Prozent der Radikalen in jedem Volk ungefähr ähnlich und schwankt in der Abhängigkeit von der allgemeinen Anspannung. Einen Teil der Russen in Estland machte die Regierung mit dem schweigenden Einverständnis des Volkes zu Radikalen (auf beiden Seiten der schwarz-weissen Front). Nicht alle natürlich. Viele haben mehr schlecht als recht die Sprache gelernt und die Prüfung abgelegt, was nicht heisst, dass sie „eine Seite annahmen“ oder „alles vergaßen“. Viele, wie auch in Russland, tauchten in ihr Privatleben ein und wollen gar nicht wissen, welche Spielchen auf unserem politischen Himmel gespielt werden. Ich würde gar nicht dem schweigenden Volk die Schuld geben, der den Reformisten erlaubte so viele Jahre das Land in einem Zustand der Spaltung gehalten zu haben. Das Volk ist immer schweigend, das kann man auch psychologisch erklären.

Es ist belustigend jetzt die Tänze rund um die bedingungslose Staatsbürgerschaft zu beobachten. Alle verstehen, dass nichts passieren wird. Es ist auch egal. Ein Viertel Jahrhundert sind nicht die vierzig Jahre die Moses die Juden in der Wüste rumführte, doch auch das reicht schon für ein Paradigmenwechsel aus. In 25 Jahren konnte man viel über die Jungs verstehen, die dort oben sitzen. Besonders, wenn die Jungs, die da oben sitzen, es auf jede Weise unterstützen.

Es ist nicht verwunderlich, dass weiterhin es mehr Gründe geben wird die bedingungslose Staatsbürgerschaft zu untergraben. „Ach, die russischen Alten können kein Estnisch lernen? Doch vor 25 Jahren waren sie nicht alt!…“ Richtig, doch zu denjenigen, die vor 25 Jahren alt waren, habt ihr euch genauso verhalten. Es ist keine Frage des Alters. Es ist keine Frage der Sprache. Die Sprache war immer ein Vorwand: mit ihr ist es am einfachsten die angenommenen Fremde zu identifizieren. Doch in einem chauvinistischem Wertesystem bleibt der Mensch ein Fremder und Feind, selbst wenn er in deiner Sprache spricht und mit dem richtigen Pass rumläuft.

Und sagen sie mir nicht, dass die Vertreter einen kleinen Volkes keine Chauvinisten sein können, dass es immer das Schicksal einen grossen Volkes sei. Erstens sind in Estland die Russen eine nationale Minderheit, das Mehrheitsvolk sind die Esten. Zweitens, die Suche nach dem Feind aufgrund der ethischen Zugehörigkeit kann jeder Vertreter eines Volkes ausüben, das hängt nicht von der nationalen Identität ab, sondern vom Inhalt des Hirns und Herzens. Und sagt mir nichts über die Geschichte. Die Geschichte geschah all diese 25 Jahre, tagtäglich, und für jeden lokalen Russen ist das eine viel wichtigere Geschichte, als die längst vergangene Sowjetunion.

Es ist so: die Chauvinisten wollen einfach nur die Fremden nicht neben sich sehen - und erklären sie schon mal zu Feinden. Und die Prophezeiung fängt sich selbst zu erfüllen an: Die Sprachfremde fangen an die Chauvinisten als auch die, die sie schweigend unterstützen, schief anzuschauen. Bitte zum Tisch, die Spaltung in der Gesellschaft ist fertig. Alles was man braucht ist es zu den angenommenen Fremden sich schlechter zu verhalten, wie zu den Seinen, zweieinhalb Jahrzehnte lang. Und dann einmal kommt in das Facebook der Abgeordneten des Europaparlaments Yana Toom der Historiker Lauri Vahrte und fängt an auf den Fingern zu erklären, warum die bedingungslose Variante gar nicht geht: „Die Vergrößerung der Anzahl der Bürger, die feindlich (belustigend, arrogant und so weiter) sich zu der Estnischen Republik verhalten, ist nicht im Interesse der Estnischen Republik…“

Darauf widerspricht ein Nikolay Karaev Vahtre (auf Estnisch), dass das ein vorurteilsbehafteter Chauvinismus sei und die „Argumente“ über die Einbürgerung auch: Einbürgerung ist für die Einwanderer, derjenige, der hier geboren wurde und sein ganzes Leben lebt, ist kein Immigrant und der Staat ist einfach verpflichtet ihm alle Bürgerrechte zu geben.

Darauf antwortet Vahtre, dass über die Rechte „ein Okkupant brüllt“, das Karaev ein „Gedankengut eines Okkupanten“ hätte.

Ja, es ist ein kleiner Streit im sozialen Netzwerk. Doch in diesem Streit spiegelten sich die ganzen vergangene 25 Jahre wider. Niemand hat behauptet, dass es einfach wird.

Dienstag, Januar 10, 2017

Stallgeruch - Porträt des gemeinen Propagandisten

Dieser Artikel ist im Moskauer Carnegie-Zentrum erschienen.

Die Propaganda in den russländischen Medien, wie wir sie kennen, hat sich im März-April 2014 endgültig formiert. Zwei Jahre später kann man feststellen; sie hat die Umwelt nicht verändert, darauf waren ihre Bemühungen gerichtet. Für den „angenommenen“ Westen, in dem die Kultur des Pluralismus existiert, blieb sogar die radikale Rhetorik nur eine „Meinung“, nicht mehr. In Russland führte die Propaganda während der Monopolisierung der Massenmedien, Fernsehens und Radios zu einem Seiteneffekt - der Beunruhigung der Bevölkerung.

Es gibt eine verbreitete Meinung, dass die Propagandamacher das alles „für Geld machen“, weil man „es ihnen gesagt hat“. Das ist bei Weitem nicht so. Ohne ihren selbstlosen Einsatz wäre der Effekt der Propaganda nicht so geschehen. Sie sind die Erhitzer der Emotionen, ständig erhöhen sie die Temperatur. Die Struktur der Propaganda erinnert an eine Pyramide ohne Spitze, auf dem höchsten Platz befinden sich die Adepten, die Meinungsbilder; dabei ist es eine kleine Abteilung von Fernseh- und Radiomoderatoren, als auch die permanenten Experten (40-50 Personen), die von einem Sender auf den anderen migrieren. Sie senden und formieren ein eigenartiges System der Werte - oder eher Antiwerte (denn Propaganda behauptet nicht nur eigene Werte, sondern verneint „die anderen“). Das sind Vertreter der humanitären Sphäre (Historiker, Philosophen, Künstler), als auch Politologen, die Institute, Zentren und Stiftungen in deren Namen die Wörter „Geopolitik“, „Forschung“ und „Analyse“ vorkommen, leiten.

Alle diese Leute eint die allgemeine Unzufriedenheit in Bezug auf die existierende Weltordnung. In einigen Fällen kann man über Hass auf die Welt sprechen. „Wir befinden uns so viele Jahre im Zustand des atomaren Gleichgewichts. Sagen Sie wird diese Waffe jemals eingesetzt?“ - interessiert sich regelmässig der Moderator auf dem Radiosender RSN bei dem Experten. In der Konstruktion dieser Frage liest sich der verdeckte Wunsch; ein Psychologe würde es den Wunsch nach Selbstvernichtung nennen, der sogar den Gefühl des Selbsterhalts überwindet.

Die Sprache mit zahlreichen Verwendung von Jargon („niederbückten“, „durchdrückten“, „wir haben sie erledigt“, „sollen sich abwischen“), archaische Vorstellungen über die Welt, die Verneinung der Moderne - es ist ein Gefühl als ob die letzten 20 Jahre diese Leute in einem lethargischen Traum verbrachten, sie sind von den globalen Veränderungen auf der Welt unberührt geblieben. Ihr Verhalten und ihre Sprache - das Ergebnis einer längeren Existenz in geschlossener, homogenen Umgebung, das Ergebnis eines „Silodenkens“ (eine Terminologie aus dem XIX Jahrhundert, die eine schwache Integration der Mikrogemeinschaft in die Umwelt bedeutet). Bis zum Jahr 2014 befanden sie sich in einem intellektuellen Vakuum - im Zustand des dostojewsken „Untergrundes“ oder sagen wir „Raucherzimmers“. Abgeschlossene Umwelt gebiert ein utopisches Einverständnis, belohnt und bewahrt die wahnsinnigsten Weltansichten. Gerechterweise muss man sagen, dass die Demokratie der 1990-er Jahre ihnen keine Kommunikationskanäle und Adaptionsmöglichkeiten zur Verfügung stellte. Dazu kam die totale Verarmung der sowjetischen intellektuellen Schicht in denselben 1990-ern; der Verlust des Einkommens, der sozialen Leistungen verwandelte in ihren Augen die Demokratie sehr schnell in die Schuldige aller ihrer Missstände (obwohl viele von ihnen sie in den 1980-ern begrüßten). Selbst als sie die Welt gesehen haben (fast alle von ihnen arbeiteten, machten Urlaub und lebten sogar lange im Westen), haben sie seine Werte nicht angenommen, verneinten sie. Beispielhaft ist ihr besonderer Hass auf den Begriff „Toleranz“: wahrscheinlich war sie, oder genauer gesagt ihr Fehlen, das Hindernis für die Integration in die „Welt“.

Die sowjetische Ideologie, die ihr Bewusstsein formierte (die Mehrheit der Fernsehexperten sind älter als 45 Jahre), stützte sich auf die marxistisch-leninistische Philosophie. In den 1980-er Jahren stellte sie ein System von Gegensätzen dar: mit Himmel und Hölle, mit hellen und dunklen Seiten, die dem Verständnis von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge entsprachen. Doch das wichtigste war, es war ein widerspruchsfreies, durchdachtes, hermetisches Weltbild: da gab es keine Ungereimtheiten. Jeder Fakt oder Geschehen auf der Welt nahmen die dafür vorgesehene Positionen im Wertekoordinatensystem ein, mit Bezug auf das Ganze, mit einheitlicher Konzeption. Erinnern wir uns: selbst die Geschichte des antiken Griechenlands oder Roms in den sowjetischen Schulbüchern wurde von den Positionen des Klassenkampfes interpretiert. Die Ideologie stützte sich auf Internationalismus (der als Idee viel breiter als Nationalismus ist). Noch ein Vorteil der sowjetischen Ideologie war das Vorhandensein eines Bilds der Zukunft: jedes damalige „Heute“ wurde auf das kommunistische „Morgen“ projiziert. Das System wurde auch in der sprachlichen Hinsicht durchdacht, sie hat keine eigenen Inhalte geduldet. Für die Bezeichnung der Feinde gab es feste phraseologische Konstrukte, alle erinnern sich an „israelische Kriegstreiber“ oder der „aggressive Block NATO“. Das war die Grenze, hinter die ein politischer Kommentator nicht hinaus durfte. Die Begriffe „Faschisten“ oder „Junta“ wurden im Bezug auf die Feinde auch gebraucht, doch in bestimmten, fast terminologisch bestimmten Fällen - zum Beispiel im Bezug auf den Umsturz durch Pinochet oder den Ungarnaufstand 1956, nicht so emotional wie heutzutage.

Die heutige Ideologie, wie man sie auch nicht nennen und formulieren würde, hat nicht mal den hundertsten Teil von der strikten Konzeption: ganz zu schweigen von der philosophischen Basis und dem Bild der Zukunft. Die allgemeinen Vorgaben werden nur konturenhaft vorgegeben und betreffen nur das aktuelle Thema. Die inhaltlichen Leeren müssen die Propagandisten selbstständig ausfüllen, das ist der Hauptunterschied zwischen der sowjetischen und jetzigen Propaganda (diese Idee äusserte Maria Lipman). Jeder Propagandist versucht das System der Gegensätze manuell aufzubauen, er stellt aus Teilen der verschiedenen und sich widersprechenden Mythen eine eigene Konstruktion her. Die Rahmen des Staatsauftrags werden nach eigenem Gusto ausgefüllt: das ist eine Mischung aus sowjetischen und imperialen Mythen und Verschwörungstheorien, äusserst linken Gedanken mit äusserst rechten. Das ist das Ergebnis von „unsystematischem Lesen“, einer Populärbildung: es ist einfacher sich dessen bewusst zu werden, wenn man sich den Büchermarkt in den 1990-ern vorstellt, wo neben Kamasutra, ein Groschenheft und etwas unter dem Titel „Die geheime Waffe Amerikas. Wer zerstörte UdSSR“ stehen.

Die Widersprüchlichkeit der eigenen Konstruktionen wird mit Hilfe der Sprache aufgelöst, deswegen ist diese Sprache so aggressiv. Das Fehlen von durchdachtem Weltbild zwingt die Aufmerksamkeit auf die Sprache, die Emotionen zu lenken und nicht auf den Sinn. Deswegen ist die heutige Propaganda, im Gegensatz zu der sowjetischen, in erster Linie ein linguistischer Phänomen. Das ist in erster Linie ein sprachlicher Zirkus, Schaumschlägerei und Angeberei. Hate speech ist das einzige Mittel ideelle Leere zu füllen. Für die Journalisten der staatlichen Massenmedien ist die sprachliche Aggression die Kompensation für die Beschränkungen durch die Zensur.

Den Westen bestrafen, den Westen retten

Die Adepten der Propaganda sind vom gleichen psychologischen Typ - autoritär, „kraftmeierisch“. Doch ist ihr jetziger Militarismus hauptsächlich „emotional“, er ist nicht der Grund, sondern die Folge. Das ist die Reaktion auf den Verlust des einfachen, hermetischen Weltbildes. Nachdem man das die absolute Wahrheit (die sowjetische Ideologie) verloren hat, haben sie sich instinktiv dem Archaischen zugewandt und fanden als einen Wert der absoluten Wahrheit, einer Stütze - den Krieg. „Das Gute ist nur der Krieg“, so schrieb der Dichter Lev Losev. Ihre Sprache maskiert sich als „Gedenken an die Heldentaten“, doch tatsächlich klammern sie sich nur an den „Krieg an sich“, als psychologische Stütze. Ihr Militarismus ist eine nackte Schaumschlägerei, das Angeben mit der „Körpermasse“: „Wir können euch zertreten“, „wir können’s wiederholen“ (gemeint ist der Sieg über Nazideutschland, Anm. des Übersetzers). Doch wozu, aus welcher Motivation heraus?.. Es gibt keine Antwort. Das ist die Achillessehne der Propaganda: ihre Adepten haben tatsächlich gar keine Ideologie, ausser dem Wunsch „die Welt einfacher zu machen“, „so wie früher“ zurückzubringen und auch „es mal allen zeigen, damit sie es wissen“.

Im Falle der 20-30-jährigen Adepten der Propaganda, deren Adoleszenz in den 1990-ern Jahren passierte, hier arbeitet, so furchtbar es auch ist, derselbe Mechanismus der Kompensation: Das Fehlen der Sicherheit im heutigen Tag zwingt es sie die Stütze in der Vergangenheit zu suchen. Das Unwissen über die sowjetische Realität macht sie in ihren Augen umso anziehender: sie leben in der Vorstellung des „himmlischen UdSSR“, den sie nur in der schönen Verpackung der Filme und Serien kennen.

Das alles zusammen ist eine traumatische Reaktion auf die Überlegenheit des „Westens“ nach dem Zerfall des Ostblocks und das Entstehen der EU. Als auch das Unvermögen einen Sinn in einem „friedlichen Leben“ und Kapitalismus zu finden. Der Unwille diesen Fakt anzuerkennen, gebiert ein komplexes System der Selbstbeweihräucherung. Versuchen wir es zu rekonstruieren. [Der gemeine Propagandist, sich an das gemeine „Westen“ wendend]: „Ihr habt in der technischen Richtung irgendwas erreicht, das erkennen wir an. Doch ist Euere ganze Welt nur bis zum Antreffen der ersten richtigen Gefahr lebensfähig (es ist typisch, dass die „Gefahr“ in ihrer Vorstellung die „Lebensnormalität“ darstellt). Und dann seht ihr, dass wir besser an das Leben in der grausamen Welt angepasst sind. Und dann werdet ihr uns selbst um die Hilfe bitten, und dann werden wir selbstverständlich die Welt noch einmal retten“.

Im Kern dieser Konstruktion, liegt, wie wir sehen, nicht der Wunsch den „Westen zu bestrafen“, sondern umgekehrt der Wunsch ihn zu „retten“, um die Existenzberechtigung der Welt gegenüber zu beweisen und gleichzeitig das „Unvermögen des Westens“. Hier kommt ein eigenartiger Idealismus hervor, der Wunsch sich von der besten und nicht der schlechtesten Seite zu zeigen. Doch, wie es häufig mit idealen Konstruktionen der Fall ist, stimmen sie nicht mit der Wirklichkeit überein. Der „Westen“ und die „Welt“ möchten gar nicht in der Gefahrensituation leben (selbst wenn man die realen Gefahren berücksichtigt), sie möchten nicht „überleben“, „sich konzentrieren“, „mobilisieren“ und „gerettet werden“. Damit rufen sie Ärger hervor: denn sie erlauben es „uns“ nicht, unsere besten Eigenschaften zu zeigen. Daraus folgt eine künstliche Zuspitzung dieser Gefahr, daraus ergibt sich der ständige Gerede über den Krieg: Damit die gefährliche Situation sich materialisiert - damit man aus ihr auch „retten“ kann.

So hat sich die Propaganda selbst in eine Falle gelockt: Die Idee der Überlegenheit Russlands hängt direkt vom „Zerfall des Westens“ ab. Für die Bestätigung diesen Zerfalls und noch allgemeiner, den Zerfall der Demokratie, muss man ständig nach Beweisen suchen. Terror, Flüchtlinge oder einfach nur Schneefall im Staat Virginia werden zu „Beginn des Zerfalls der westlichen Zivilisation“ erklärt. Die Demokratie wird zu einer kindlichen Verirrung, temporärem geistigen Unvermögen der Menschheit erklärt, denn sie „stört“ mit ihrer „Schwäche“ unsere Reife, Tapferkeit und Durchhaltevermögen zu demonstrieren.

Dies ist das Ergebnis der Enttäuschung, vor allem in sich selbst und der Gemeinschaft, die es nicht schaffte, die Vorteile der Freiheit in den 1990-ern zu nutzen. Daraus wurde die Verneinung von Subjektivität, des individuellen politischen Willens, der Unglaube in die Selbstständigkeit der menschlichen Aktivitäten überhaupt. Das eigene Unvermögen erzeugte den Unglauben in die Subjektivität von anderen.

Geschichtskult und der neue Stalinkult

Wenn man keine gute Begründungen in der Moderne hat, sucht man sie in der Vergangenheit. Neben dem Krieg hat die „Geschichte“ einen ähnlichen Stellenwert (obgleich es ein verzweifelter Versuch ist, sich an etwas Festem abzustützen). Die Dauer und die Unveränderlichkeit der Geschichte ist ein selbstgenügsamer Argument: „wir sind älter, wir sind mehr - deswegen sind wir immer im Recht“. Der Unwille sich zu ändern ist auch selbstgenügsam. Die Trägheit, der Konservatismus, die Unbeweglichkeit der Gesellschaft werden als Vorteile deklariert und nicht als Nachteil.

In den 1990-ern standen die sowjetischen und imperialen Mythen im Widerspruch zueinander. Der Mythos über dem vorrevolutionären Russland wurde als Gegensatz zu dem Sowjetrussland dargestellt (wie in dem Film von Govoruchin „Das Russland, das wir verloren haben“). Dann geschah ihre Symbiose. Eigentlich ist es recht schwer „weiss“ und „rot“ miteinander zu verbinden. Doch eine dialektische Lösung wurde gefunden - durch den Ausschluss der Ethik als des Kriteriums bei der Bewertung des politischen Regimes. Wenn als höchster Wert nicht der Mensch, sondern der Staat erklärt wird, werden alle Opfer im Endeffekt gerechtfertigt.

Der neue Stalinkult entstand nicht zufällig (die Erwähnung seines Namens und Vatersnamens in den Reden der Propagandisten ist heutzutage ein sonderbarer Code, um zu erkennen, wer eigen und wer fremd ist), nicht aus Laune seiner Adepten wie Prochanov, doch aus ganz rationalen Gründen. Denn nur er ist die am besten sich eignende Figur für die dialektische Vereinigung der weissen und der roten Ideen. Laut dieser neuen Konstruktion hat „Lenin das Imperium zerstört“, Stalin hat es wiedererschaffen - als ein rotes Imperium. Stalin ist heute die Vereinigungsmenge des zaristischen Projektes und des sowjetischen. „Das Dienen dem Staat“ wird als die einzige Ethik anerkannt, alle anderen Ethiken sind zweitrangig. Hier sind die Worte des Patriarchen (6. November 2015, Auftritt bei der Eröffnung des Forums „Orthodoxes Russland“): „Die Erfolge des einen oder anderen Staatenlenkers, der an der Quelle des Wiedergeburts und der Modernisierung des Landes stand, kann man nicht anzweifeln, selbst wenn der Lenker durch Verbrechen sich hervortat.“ Verbrechen und ökonomische Erfolge werden demzufolge gleich bewertet. „Sonst hätten wir nicht gewonnen, sonst wäre die Industrialisierung unmöglich gewesen, ohne Opfer ginge es nicht, in der Politik gibt es keine Moral, damals hat man überall Leute erschossen“, so rechtfertigt man die Repressionen.

Der Monolog des verlassenen Ehemannes

Die Hauptthesis der Propaganda über die „ewige Konfrontation“ des Westens mit Russland stützt sich auf den Konservatismus des XIX Jahrhunderts im Geiste des Historikers Danilievski und das sowjetische Model „Konfrontation zweier Systeme“: daraus entstand die synthetisierte These: „Der Westen wollte uns schon immer vernichten, wir haben immer gegen den Westen gekämpft“. Es ist jetzt schwer daran zu glauben, aber in der Antiwestlichkeit spricht eher Eifersucht als Hass. Rekonstruieren wir wieder den inneren Monolog des Propagandisten. [Sich an das gemeine Europa wendend]: „Wir dachten, dass Du uns liebst, wir kauften Deine Autos und Häuser, wir verschwendeten Geld; und Du hast uns trotzdem nicht wertgeschätzt, hast uns verlassen, verraten“. Die Kränkung und der Wunsch zu Erniedrigen, Sarkasmus und Schadenfreude - das alles erinnert an die Sprache einen verlassenen Ehegatten, den Stil der neurussischen Trennungen der 1990er - 2000er, den Versuch sich an der Ehefrau mit Hilfe von administrativen Hebeln zu rächen. Jetzt ist in der Rolle der „Ehefrau“ der gesamte Westen.

In den zwanzig Jahren des dostojewsken Untergrunds haben die Leute aus diesen Kreisen einen wichtigen Bestandteil der neuen Welt verpasst: Die Kultur des Dialogs, Zusammenarbeit, Kommunikation als den wichtigsten Faktors der Moderne. Kommunikation, das ist nicht reden, so schreibt Habermas, sondern „auf den anderen warten“. Die Dialoge der Propagandisten in den Talkshows geben nur vor Dialoge zu sein: diese Rede mutet sich archaisch hauptsächlich deshalb an, weil deren Autoren es nicht vorhaben „zu reden“, nicht mal miteinander: sie wollen bestrafen, züchtigen mit Hilfe von Wörtern. Sie finden ein Dialog ist eine schändliche Tat, eine Schwäche, sie finden es unter ihrer Würde selbst den Versuch eine gemeinsame Sprache zu finden. Dort feiert heute der „Kult der Strasse“ fröhliche Urstände, den die Propagandisten sich selbst künstlich aneignen, um der allgemeinen Mode zu entsprechen. „Wir haben solche Schwächlinge, wie ich mich erinnere, auf der Strasse gejagt“ - so spricht der Politologe Satanowskij über die heutige Führung des ökonomischen Blocks, die man als die „fünfte Kolonne“ in dem Machtzirkel betrachtet. Das archaische Bewusstsein läßt keinen Gedanken an die Akzeptanz etwas anderen zu. Die Schadenfreude und Sarkasmus zum anderen ist das Ergebnis des verunglückten Versuchs in ein Dialog mit einem anderen zu treten. Doch auch auf der gegenüberliegenden Seite, in den engen Rahmen, die geblieben sind, ist die Fähigkeit sich zu öffnen nicht immer erkennbar, doch das ist ein anderes Thema.

Propaganda sieht deswegen so erschreckend archaisch, die Werte nicht nur der Nachkriegszeit, sondern der gesamten Ära der Aufklärung verneinend, aus, weil jeder Teilnehmer sie mit seinen eigenen, noch archaischeren Vorstellungen über die Welt füllt. Tatsächlich ist das kein Angriff, sondern Verteidigung, vor allem sich selbst, vor der Welt. Das ist das Ergebnis der aufgesparten, nicht gelösten ethischen und weltanschauenden Probleme des posttotalitären Bewusstseins. Ihre Phobien und Ängste teilen sie jetzt mit uns, in ihren endlosen Sendungen und Shows. Faktisch haben wir es mit unterbrechungsloser Offenbarung zu tun, gleichzeitig auf zehn Krankenbetten, jeden Tag, 24 Stunden lang. Propagandisten erzählen uns nicht über die anderen - Amerika und den Westen - sondern über sich selbst, sie machen uns mit ihren eigenen „Abgründen“ bekannt.

Ihre Rede ist ein unterbewusster Versuch zuerst ihre eigenen Dämonen auszutreiben. Unsere Beunruhigung ist zuallererst die Folge ihrer Unruhe. Aus dieser Sicht heraus sind es nicht wir, sondern sie, so paradoxal das auch heute klingen mag, die Opfer der Propaganda.