Mittwoch, Juni 25, 2014

Rede der Woche

Heute vor 95 Jahren besiegte die Estnische Armee zusammen mit Verbündeten aus Lettland unseren gemeinsamen Feind, den wir unter dem Namen Landwehr kennen. Das war die Schlacht bei Võnnu, Cēsu kaujas. Doch geben wir die Landwehr und die Rote Armee, unseren zweiten Gegner in dem Befreiungskrieg die richtigen Namen. Unter ihnen waren die Wiederaufbauer des Imperiums, Zerstörer, Terroristen.

Wenn wir verstehen, dass der Sinn der Siegesfeier der Sieg über sie ist, wenn wir begreifen, gegen was die Esten und die Letten hier auf der Südfront kämpften, dann verstehen wir wie wenig sich die Welt in den letzten 95 Jahren geändert hat.

Es lohnt sich nicht, sich den Illusionen hinzugeben. Das Fundament der Sicherheit, auf das wir uns mit unseren Verbündeten 23 Jahre lang stützten, ist verschwunden. Uns hat man die ganze Zeit beruhigt, dass die Welt sich geändert hat, dass in Europa keine Territorien erobert werden, man nicht mit Waffen angreift. Doch es sieht so aus, dass man angreift, okkupiert und besetzt. Alle wichtigen europäische Verträge, die die Unabhängigkeit der Staaten garantieren, wurden im letzten halben Jahr verletzt. Die Kraft in reiner Form, harte Eigensucht, die durch die Lüge verdeckte Ungerechtigkeit in Form von lauter Propaganda und Verzerrung der Wirklichkeit - all das, gegen was vor einer Generation die junge Estnische Republik kämpfen musste, es ist nicht verschwunden. Erst im letzten Viertel Jahrhundert gewöhnten wir uns an Frieden und europäische Entwicklung, zum durch Verfassung garantierten Schutz, zu eingetretenen Erwartungen und materiellen Verbesserung.

Das was wir heute in der Ost-Ukraine sehen, sah das Volk Estlands in den Jahren 1940 und 1919. Wir können und oft wollen nicht vorstellen, wie zerbrechlich unser gewohntes Wohlstand ist. Wie zerbrechlich die uns umgebende Welt ist, unsere Unabhängigkeit, unsere Freiheit. So wie wir es im Jahr 1938 in den Tartuer Cafés oder Bauernhäusern in Valgamaa uns nicht vorstellen konnten.

Jetzt wissen wir, wie teuer uns dieses täuschendes Gefühl der Sicherheit kommen kann.

Genau deswegen hat die uns an die Tapferkeit unserer Vorfahren erinnernde Siegesfeier viel mehr Sinn, als einfach Vortag der Johannestages zu sein. Das ist vor allem ein Moment der Besinnung.

Estland hat immer sich zu dem Friedenszustand nach dem Ende des Kalten Krieges und zur Bewahrung des ewigen Friedens in Europa mit gesunder Portion Skepsis verhalten. Die Vergangenheit machte uns vorsichtig.

Deswegen haben wir auch in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten immer Geld für die Staatsverteidigung gefunden. Deswegen nahmen wir an den NATO-Missionen weit weg von zu Hause teil.

Jetzt sehen wir, wie diese Investitionen sich bezahlt machen. Jetzt sagt man auf den Treffen der NATO-Minister, dass andere sich so wie Estland verhalten sollen.

Es hat sich ergeben, dass wir einen revanchistischen, revisionistischen Nachbarn haben, der nicht denkt, dass die vor 25 Jahren eingetretene Ordnung der befreiten Völker in Europa, so bleiben soll. Und seine Vertreter behaupten, dass Toleranz Dekadenz ist, dass die liberale Demokratie, wie wir sie verstehen, nur eine Besonderheit der westlichen Zivilisation ist.

Wieder werden Gespräche über Imperium geführt. Die propagandistischen Mühlen arbeiten ohne Unterlass. Doch auch die NATO schläft nicht. Wenn vor 20 Jahren die Rolle der NATO in Europa in Zweifel gezogen wurde, dann erfüllt die Allianz wieder seine Hauptrolle, die darin besteht die Territorien und die Freiheit der Alliierten zu beschützen.

NATO ist auch in Estland vertreten. In unseren Gewässern, in unserem Luftraum, auf unserer Erde.

Gab es Zweifel, ob sie kommen wird, um Estland zu verteidigen, wenn es ernst wird?

Sie wird kommen, das verspreche ich. NATO verteidigt in Estland sich selbst. Sonst wären alle Mitglieder der NATO schutzlos. Das Prinzip „einer für alle, alle für einen“ schaffte einen Zustand, in dem noch kein Staat es riskierte einen Mitglied der NATO anzugreifen.

Deswegen kann Estland, wie auch jeder andere Mitglied der Allianz, sich sicher fühlen. Diesmal ist die tatsächliche Lage allen bekannt. Dieses Mal sind wir bereit Widerstand zu leisten, wenn es notwendig sein sollte. Zusammen mit Verbündeten.

Liebes Volk Estlands.

Estland verfügt über Kampfarmee, die im Falle der Notwendigkeit Tausende ausgebildete Männer und Frauen zur Verfügung stellen kann.

Wir haben eine verteidigungswillige und kampfbereite Volksarmee - Der Verteidigungsbund (estn. Kaitseliit). Das ist die Antwort denen, die am Sinn der Wehrpflicht gezweifelt haben. Das ist die Antwort denen, die die Mitglieder des Verteidigungsbundes für in Krieg spielende Jungs hält, die es mögen mit den Waffen rumzulaufen, anstatt etwas sinnvolles zu tun.

Und wie ich schon sagte, haben wir Verbündete. Flugzeuge der NATO-Verbündeten auf der modernsten und neusten Basis in Europa. Die Schiffe der Verbündeten in der Ostsee. Die Soldaten der Alliierten zusammen mit unseren Soldaten auf estnischen Basen, auf Basen der NATO in Estland.

Liebes Volk Estlands.

Am Tag der Sieges ist es Tradition die Mitglieder des Verteidigungsbundes und die Freiwillige Vereinigung der Frauen, die ihre Freizeit und Kraft der Verteidigung unserer gemeinsamen Freiheit widmen, zu feiern. Die Geschehnisse in der Ukraine unterstreichen die Notwendigkeit des Verteidigungsbundes. In der Ukraine fing man an Verteidigungseinheiten der Freiwilligen zu bilden, sie auszubilden und auszurüsten, erst als die Gewalt schon zum Faktum wurde.

In Estland wurde der Verteidigungsbund dann gegründet, als man die Eigensucht der nach dem ersten Weltkrieg entlassenen Soldaten des Zaren in Lettland gesehen hat. Damit dasselbe in Estland nicht geschehen konnte, wurde der Verteidigungsbund gegründet.

Der freie Wille der Verteidigungsbundes kann den Aggressor zurückhalten.

Der Mann oder die Frau, die ihr Haus verteidigen, handelt von ganz anderen Position aus, als irgendein Mensch in Uniform, ein Söldner oder ein Krimineller.

Jeder potentielle Feind weiss, dass die allergrößte Gefahr für ihn das Volk darstellt, das mit Überzeugung seine Lebensweise und Werte verteidigt. Beispiele kann man sowohl in ferner als auch in naher Vergangenheit finden.

Liebes Volk Estlands

Die Hauptlehre aus der Ukraine besteht in Estland in Frage, auf die jedes Volk und jede Gemeinschaft die Antwort tagtäglich suchen muss.

Die Frage ist folgende: Lohnt es sich unsere Lebensart, unsere Freiheit zu verteidigen und sich zu opfern? Diese Frage können nur wir selbst beantworten. Wir alle, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Beruf, Wohnort, Nationalität oder Muttersprache.

Ich bin stolz auf das Volk Estlands, denn die Antwort war die gleiche in Supilinna, in Lasnamäe, in Narva und in Varga.

Ja, das ist unser Staat, wo wir Entscheidungen treffen und selbst unsere Wahl machen können. Estland muss sich merken, dass dieses Recht, Entscheidungen selbstständig treffen zu können, ständig hinterfragt wird.

Für manche sind wir zu erfolgreich, zu unabhängig, zu eigenwillig, zu europäisch, zu umsowjetisch.

Das Volk Estlands hat bewiesen, dass die Freiheit, die Redefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Reisefreiheit, der Rechtsstaat, unabhängige Gerichte und demokratische Wahlen es erlauben, sich weiter zu entwickeln.

Genau in diesen Sachen verkörpern wir all das, was im Nachbarland als Gefahr für die eigene Existenz gesehen wird. Estland und Lettland sind Staaten, die für das Nachbarland die Verkörperlichung der größten Katastrophe des 20ten Jahrhunderts darstellen.

Liebes Volk Estlands

Jetzt frage ich: Sind wir bereit? Sind wir bereit mehr zu investieren, um unsere Freiheit zu verteidigen? Sind wir bereit im Namen der Freiheit auf einige Vorteilen oder gegebene Wahlversprechen zu verzichten? Sind wir bereit gegenseitig freundlicher und verständnisvoller zu sein?

Können wir zusammenhalten?

Estland ist unser Staat, unsere Freiheit, unsere Freiheit der Persönlichkeit, unser Haus und Familie. Die Verteidigung Estlands kann nicht die Sache einen anderen sein.

Estland ist unsere Sache, die Sache für jeden einzelnen.

Estland verdient es versorgt und verteidigt zu werden.

Es lebe Estland!

Thomas Ilves, Präsident Estlands zum Tag des Sieges über die Landwehr bei der sogenannten Schlacht von Wenden 1919

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für die Übersetzung! - Bei Ilves rechtslastigen Einstellungen ist man ja einiges gewohnt, aber die Rede ist ja noch schlimmer als der noeliberale ideologische Mist den sein Kollege Gauck in Deutschland in seinen Reden verbreitet.

Anonym hat gesagt…

tja, da mag der erste Kommentator wohl recht haben, aber zuzugeben ist ja wohl, dass Putin dem Ilves eine Steilvorlage geliefert hat.

Schirren hat gesagt…

Interessant, die baltischen Barone in einer Reihe mit der Roten Armee. Wie sieht die Welt doch verschieden aus, je nach dem, aus welchem Winkel man auf sie blickt...