Samstag, September 01, 2012

Ist Estland klein oder leer?

So gut wie immer, wenn man sich mit Leuten aus Estland unterhält, hört man früher oder später umweigerlich den Satz: "Estland ist so ein kleines Land". Das ist Entschuldigung für alles, dafür, dass man keine Asylbewerber oder Gastarbeiter haben will, dass nur eine Sprache Staatssprache sein soll, dass soziale Standards so niedrig sind… "Wir sind so ein kleines Land, deswegen müssen wir das was wir haben bewahren, ein bisschen fremden Einfluss und es wird unweigerlich zerstört". Vor 30 Jahren, als Estland noch Estnische Sowjetische Sozialistische Republik hiess, war das auch zutreffend, die Sowjetrepublik Moldawien war zwar noch kleiner, aber neben riesigem Russland war Estland natürlich ein Zwerg.

Doch die Zeiten ändern sich. Estland ist ein Staat der EU und da sieht die Größenverteilung etwas anders aus. Estland mit seinen 45.228 km^2 befindet sich zwischen Slowakien und Dänemark. Die Niederlande, die Schweiz, Belgien, Slowenien und natürlich Zypern, Luxemburg und Malta sind kleiner. Was die Bevölkerung angeht, da ist Estland schon weiter hinten, nur Zypern, Luxemburg und Malta haben weniger Bevölkerung als Estland. Und was ganz schlecht aussieht, ist die Bevölkerungsdichte, mit 28 Einwohnern / km^2 wird Estland nur von Schweden, Finnland und Norwegen übertroffen. Allerdings spielen hier geografische Gründe eine Rolle, während Estland auf dem gesamten Territorium ganzjährig bewohnbar ist, liegen grosse Teile dieser Länder nördlich des Polarkreises, sind also kaum nutzbar und bewohnbar. Zum Vergleich, Bevölkerungsdichte in Deutschland ist 227 Einw. / km^2, in den Niederlanden 402 Einw. / km^2 und in Malta 1296 Einw. / km^2, also 36 Mal so viel! Estland ist deswegen nicht klein, sondern leer!

Warum wird dann bis heute das Wörtchen "klein" viel öfter benutzt als das Wort "leer"? Wenn ein Staat klein ist, kann man es nicht vergrößern, wenn es leer ist, dann kann man durchaus was tun, um es voller zu machen. Klein ist niedlich und putzig, hat ein positives Image, leer ist dagegen hoffnungslos, man erinnere sich an Trappatonis "Flasche leer", es ist nichts mehr da. Leer zu sein ist ein Eingeständnis, dass man es nicht besser weiss oder besser kann.

Leer zu sein hat auch ganz praktische Konsequenzen. Es ist erheblich schwieriger Sicherheit und Infrastruktur für die wenigen, die irgendwo in der Pampa leben, sicherzustellen, als in dicht bevölkerten Regionen. Falls man es nicht mal versucht, dann fällt die Lebensqualität der verstreuten Einwohner automatisch. Das kann man schon sehr gut beobachten, es gibt keine Dorfschulen, Bankniederlassungen schliessen, die Post zieht weg, auf dem Weg zum Arzt muss man lange Strecken zurücklegen und der Bus fährt auch immer seltener. Und die Situation wird sich nicht bessern, die einzigen Regionen aus denen bei der letzten Zählung Bevölkerungswachstum vermeldet wurde waren die "Großstädte", das Land wird noch leerer. Obendrein lässt sich die Stadt Tallinn alles mögliche einfallen, um die Bevölkerung der Stadt hochzutreiben, zum Beispiel ist es angedacht das kostenlose Stadtverkehr nur für die registrierte Einwohner der Stadt zu gewährleisten. Die weiterführende Schulen, die besten Krankenhäuser, die Dienstleistungsarbeitsplätze sind alle in der Hauptstadt konzentriert, die wie ein Magnet die Landbevölkerung anzieht . Das ist auch ein politischer Kampf, denn je mehr Bevölkerung die oppositionelle Stadtregierung gegenüber der Landesregierung repräsentieren kann, desto mächtiger ist sie.

Was kann man denn tun, soll man was tun? Mit dieser Frage beschäftigen sich ja auch andere europäische Regionen, wie Ostdeutschland, von wo dauernd alarmierende Reportagen über verfallene Städte und Dörfer kommen. Die Vorschlagspalette ist breit, von Sehnsuchts- und Willkommenspaketen, die an Auswärtsstudierende verschickt werden, bis zu Zwangsumsiedlungen und Infrastrukturstilllegungen. Der estnische Präsident rief auch ein Programm ins Leben, damit estnische Studenten im Ausland wieder nach Hause kommen und war tief enttäuscht, als das Ergebnis sehr mickrig war, knapp 50 Studierende haben Interesse angemeldet. Ansiedelung von Ausländern will man vermeiden "aus historischen Erfahrungen heraus". Wie es aussieht werden bald weite Teile Estlands eine Freude für Naturliebhaber, denn sie werden sich zu unberührter Natur zurückverwandeln.

Keine Kommentare: