Dienstag, Juni 26, 2012

Die Anwendung des neoliberalen Kriegsbeils und die Zerstörung der estnischen Wirtschaft

Vielen Dank an Karl Krugmann für die Übersetzung diesen langen Artikels

Von Prof. Jeffrey Sommers und Dr. Markku Sippola

Global Research, 24. Oktober 2011

Die Elite der Finanzpresse hält an, weiterhin ihr baltisches Sparmodell auf den Markt zu bringen. Im vergangenen Monat zeigten Michael Hudson und Jeff Sommers wie Anders Aslund, von dem bankfinanzierten Petersen-Institute, gegen den Schneeball trat, der den Berg hinunter zu rollen und anzuwachsen begann in Bezug auf die neueste Ausgabe des „baltischen Tiger Märchens“. Schon seit langem gingen Robert Samuelson und die Washington Post unter der Leitung von Andersens mit dem armen Lettland als ihr Aushängeschild für das Modell einer „erfolgreichen“ Sparpolitik hausieren. Jetzt, da die lettischen "Errungenschaften" entlarvt worden sind, haben sie sich auf den Weg gemacht, um für Estland zu werben. Dies geschah zuletzt durch das Wall Street Journal, wo sie für die tapfere estnische Wirtschaft schwärmten, während die Kommentare zu ihren Blog-Seiten mit Seitenhieben auf die Keynesianer vermerkten: "Übernehme, Paul Krugman!"

Viele Ökonomen und Leute der Finanzpresse ahmen Kindern auf Fahrgeschäften in Vergnügungsparks nach. Sie glauben, ihre Sparpolitik "lenke" ihr Fahrzeug und nicht die zugrunde liegenden strukturellen Kräfte. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit im Fall von Estland. Ich war ein gefragter Redner für eine Debatte mit einer estnischen Bank, und zwar der Estnische Zentralbank, und Teilnehmer an der Debatte im vergangenen Juni im Rahmen einer aufgezeichneten Veranstaltung in der Tallinner Technischen Universität. Neoliberale Teilnehmer schwärmten wie Jugendliche auf einem Justin Bieber Konzert und riefen: "Wie hast du das getan?" Die Verantwortlichen der Bank reagierten mit erfrischender baltischer Bescheidenheit: "Wir wurden glücklich geboren". Was meinte er damit? Das war sicherlich nicht die Antwort, die die Ökonomen hören wollten! Die Bank nannte nämlich Estlands geographische Lage als seinen zufälligen Wirtschaftsstandortvorteil.

Kurz gesagt, das „estnische Modell" besteht im Wesentlichen aus seiner Hauptstadt Tallinn, verbunden mit Helsinki durch fast 40 Fährverbindungen am Tag und durch nur 18-minütige Flüge mit dem Hubschrauber für die gegenseitigen Dienstreisen ihrer Führungskräfte. In der Tat haben die Einheimischen einen leichten Zugang zu "Talsinki" (Anmerkung: Wortspiel „Tallinn und Helsinki“). So hat dieses kleine Land von 1,6 Millionen Menschen, deren Bevölkerung in den USA nur als mittelgroße Stadtlandschaft rangieren würde, den wesentlichsten Vorteil aufzuweisen, dass es an in der Welt sehr erfolgreich agierende soziale Demokratien angeschlossen ist. Finnische und schwedische Unternehmen brauchen auf ihrer Suche nach billigen Arbeitskräften nur einfach nach Tallinn zu hüpfen und zu schippern. Geschieht dies, weil die Esten produktiver sind? Nein. Warum denn? Wegen der niedrigeren Arbeitskosten natürlich. In der Tat locken die Esten geschickt skandinavische Geschäftsleute an, damit diese dem „Sozialismus" in ihren Ländern entkommen können. Es ist eine Art von speziellem Vergnügen, die zuverlässige Ehefrau für ein neues Techtelmechtel zu verlassen. Dies hat natürlich manchmal auch seine Schattenseiten. Esten sind nämlich nicht unbedingt für ihre Schnelligkeit bekannt. Versuchen Sie mal den Kundendienst von SAS (Scandinavian Airlines) anzurufen. Dann können Sie auf dem Display verfolgen, wie das estnische Call-Center Sie mit der Schnelligkeit einer Schildkröte bürokratisch durch ihr System rumreicht, aber natürlich mit größtmöglicher Professionalität. Sie finden also in Estland je nach Ihrem Wunsch sowohl Professionalität als auch höchste Produktqualität, aber erwarten Sie bitte nicht Geschwindigkeit.

Was ist nun die Wirklichkeit des estnischen Wirtschaftsmodells? Erstens, es verfügt statistisch gesehen über die US-GINI-Maße (Anmerkung: Index zur Berechnung der Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen in der Wohlfahrtsökonomie). Wenn Sie massive Ungleichheit mögen, dann sind Sie im Allgemeinen in Estland und in den baltischen Staaten gut aufgehoben. Zweitens hat es eine verstärkt anwachsende Arbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen, abgemildert nur dadurch, dass der estnische Arbeits- und Wirtschaftsmarkt durchlässig zu den benachbarten Arbeits- und Wirtschaftsmärkten Finnlands ist.

In der Tat hat der sogenannte estnische "Erfolg" zu einem Kaufkraftvorteil von nur einem Drittel unterhalb dem Griechenlands geführt, obwohl Estland neben den Ländern mit der weltweit höchsten Kaufkraft liegt und wirklich in diese integriert ist. Sprachlich verstehen sich Esten und Finnen untereinander. Dies ermöglicht ein leichtes Pendeln zu dem jeweiligen anderen Geschäfts- und Arbeitsmarkt. Die veröffentlichen statistischen Daten Estlands aus 2009 enthüllen eine riesige Armut für ein Land der Europäischen Union. Ungefähr 16 Prozent der estnischen Bevölkerung oder etwa 211.000 Menschen lebten in 2009 in relativer Armut. Die Situation hat sich auch in den beiden nachfolgenden Jahren nicht gebessert - und die Sparmaßnahmen sind wirklich nicht geeignet, die Dinge besser zu machen. Das einzig gute, was man zum estnischen Modell sagen kann, ist, dass es besser als das lettische ist, wo die Sparmaßnahmen und die Steuersätze (flat taxes) zu einem Desaster biblischen Ausmaßes geführt haben, die dieses Land zu zerstören drohen.

Paradoxerweise - aber vielleicht nicht überraschend – ist Estland schließlich das Land unter den baltischen Staaten, das intern auf eine Abwertungspolitik setzt (im Nachhinein beurteilt). Dennoch übertrifft es die anderen baltischen Länder bei der Erholung von der Krise. Nach dieser Logik, wenn überhaupt, sollte darüber gestritten werden, ob ein Wirtschaftswachstum nicht besser durch eine weichere Sparpolitik und interne Abwertung erreicht werden kann! Zwar ist der Ausgangspunkt in Estland anders gewesen als in Lettland und Litauen: Estland war nämlich vor der Krise das wirtschaftlich bestaufgestellteste Land unter den baltischen Staaten. Es musste keine bankrotten Banken retten, weil Estlands Finanzinstitute alle in ausländischem Besitz sind, und brauchte damit auch keine Rettungspakete für inländische Banken zu schnüren.

Die Kehrseite von fast ausschließlich sich in ausländischen Händen befindlichem Eigentum ist jedoch, dass es alle seine Schuldendienstzahlungen an ausländische Staatsangehörige in einer Art neuen Leibeigenschaft zu leisten hat, so wie in den Tagen als in Estland noch der schwedische, deutsche oder russischen Feudalismus herrschte, wie Michael Hudson vermerkte.

In welchem Umfang hat das angrenzende sozialdemokratisch regierte Finnland den Esten bei der Bewältigung ihrer Probleme geholfen? Die Finnen bieten viele Kurzzeit-Jobs in Bau-, im Dienstleistungssektor und in andere Industrien an. Des Weiteren wird geschätzt, dass seit der Jahrtausendwende zwischen 92.000 bis 133.000 Esten im Ausland gearbeitet haben. Dies entspricht 14-19 Prozent aller Arbeitnehmer. In der Tat gingen allein im Jahr 2009 fast drei Prozent der estnischen Arbeitskräfte im Ausland arbeiten. Dies bedeutet, dass sich ein beträchtlicher Anteil der Arbeitnehmer für eine zeitweilige Arbeit im Ausland entschieden hat - meistens in Finnland. Es gibt einen klaren Aufwärtstrend hinsichtlich der Absicht, auszuwandern.

Im Jahr 2006 hatten 26 Prozent der Esten im erwerbsfähigen Alter in Erwägung gezogen auszuwandern, im Jahr 2010 hingegen nicht weniger als 38 Prozent. Aber hat sich dabei die Absicht auszuwandern von kurzfristiger zu langfristiger verändert? Nicht weniger als 13 Prozent der potenziellen Auswanderer hat ihren Wunsch geaüßert, für immer Estland den Rücken zu kehren. Dabei zeigt eine Studie von Brit Veidemann, dass die größte Bereitschaft auszuwandern bei den Jüngeren (15-24 Jahre alt) liegt. Man muss nicht weiter ausführen, was dies für eine Nation bedeutet, es ist der demographische Kollaps. Dabei muss aber erwähnt werden, dass diese Gruppe im Jahr 2006 an eine Emigration dachte, zu einem Zeitpunkt also bevor die Sparmaßnahmen als Haushaltsziel eingeführt wurden. Dennoch belegt eine Umfrage im Jahr 2009 unter den estnischen Auswanderern, dass ein Viertel der Befragten nach Estland zurückkehren möchte, 45 Prozent aber weiterhin die Absicht hatten, in den Ländern zu verbleiben, in die sie immigriert waren.

In den Internet-Chat-Foren grassiert großes Gemurre über die miserablen Arbeitsbedingungen und Gehälter in Estland. Diese Auffassung wird durch eine Umfrage unter den Esten aus dem Jahre 2010 bestätigt, nach welcher 40 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter Angst vor Entlassungen hatten, und 49 Prozent unzufrieden waren mit ihrer Perspektive auf Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten an ihrem Arbeitsplatz.

Nach dem Gesagten empfehlen wir der Washington Post, dem Wall Street Journal und anderen Postillen dringend damit aufzuhören, Estlands und Lettlands Sparpolitik als Beispiele für die Lösung der wirtschaftlichen Krisen in den USA oder anderen europäischen Nationen anzubieten. Dies zeigt nur, warum Protestaktionen über das anwachsende Nichtfunktionieren der neoliberalen Wirtschaftspolitik in über 80 Ländern und in fast 2.000 Städten entstanden sind. Um mit Tacitus frei zu sprechen: "Sie halten an, Krisen zu produzieren und nennen es Wohlstand". Wall Street und ihre Ideologen sind meilenweit entfernt mit ihrem Kontakt zur Realität. Ihre tragische Komödie sollte nicht länger erduldet werden.

Es ist unaufrichtig und im schlimmsten Fall verwerflich, den Vereinigten Staaten zu empfehlen, dem Modell dieser kleinen baltischen Staaten mit jeweils weniger als zwei Millionen Menschen zu folgen. Wollen wir wirklich noch mehr Armut und Arbeitslosigkeit schaffen? Wohin sollten die 50 Millionen Amerikaner unter dem Diktat einer baltischen Sparpolitik entkommen? Kanada? Mexiko? Die Virgin Islands? Die baltischen Arbeitnehmer wurden gezwungen, in Massen auszuwandern. Wir müssen doch wirklich erkennen, dass beides, nämlich die ausgemachten Fehler der baltischen Sparpolitik und die komplexen Besonderheiten zu den beschriebenen „Erfolgen“ geführt haben. Vorzuspielen, dass sie in den USA oder in den größeren europäischen Nationen reproduzierbar wären, ist der Gipfel an Verantwortungslosigkeit.

Jeffrey Sommers ist Associate Professor of Political Economy in Africology an der Universität von Wisconsin-Milwaukee und Visiting Faculty an der Stockholm School of Economics in Riga. Er ist zu erreichen unter: Jeffrey.sommers @ fulbrightmail.org

Markku Sippola ist Postdoktorand an dem karelischen Institut der Universität von Ost-Finnland. Er hat Arbeitsmarktregeln, Industriebeziehungen und Investitionsmöglichkeiten nordische Unternehmen in Russland und den EU-Ländern untersucht. Er ist zu erreichen unter: markku.sippola @ uef.fi

Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Karl Krugmann, Menschenrechtsaktivist, Erfurt. Lebte für kurze Zeit in Estland und ist Augenzeuge der April-Ereignisse („Bronzene Nächte“) des Jahres 2007 in Tallinn.

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