Dienstag, April 10, 2012

Worte zu Integration

Firma "Praxis", "Emor" und Soziologen aus Tartu, vor allem die Mutter der estnischen Soziologie Professor Marju Lauristin führten ein neues Monitoring der Integration in Estland durch. Es wurden einige interessante Fakten ermittelt, die ich dem Leser nicht vorenthalten möchte.

Zum Beispiel wurde ein riesiger Unterschied bei der Arbeitslosigkeit zwischen den Esten und den Nichtesten festgestellt. 2008 waren es 3%, jetzt sind es 7%, im ersten Quartal 2010 waren es 12%. Dabei waren 35% der männlichen Nichtesten ohne Arbeit.
Politisch gesehen nannten sich 48% der Nichtesten als Anhänger der Zentristen, ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird, auch wenn es ständige Skandale und Parteiaustritte gibt, unter den Esten sind es 7%. Auf dem zweiten Platz finden sich die Sozialdemokraten wieder mit 10%, die Regierungsparteien haben zusammen 4%, alle anderen Befragten haben keine Präferenz oder wollten sie nicht nennen.

70% der Nichtesten feiern den 09. Mai, Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland, 46% feiern den 23. Februar, Tag der russischen Armee, ein Drittel feiert den 24. Februar, Tag der Unabhängigkeit Estlands. Nur 1% der Esten feiert den 09. Mai, 38% haben negative Einstellung zu diesem Feiertag und 8% wissen davon nichts.

Die Anzahl der Nichtesten, die die estnische Sprache perfekt beherrschen, ist im Vergleich zu 2007 von 15% auf 13% gesunken. Anzahl der Personen mit aktiven Wortschatz verringerte sich von 25% auf 23%, aber auch die Anzahl der Personen, die überhaupt nichts auf Estnisch verstehen sank leicht von 17% auf 16% und derjenigen, die verstehen, aber nichts sagen können von 20% auf 19%. Dafür stieg die Anzahl der Verstehenden und etwas Sprechenden von 23% auf 29%.

Interessant war auch die Feststellung, dass die Umstellung der russischen Schulen auf Estnisch hauptsächlich unter der älteren Bevölkerung unterstützt wird und am wenigsten unter den Jungen. Das heisst, je weiter weg die eigene Schulausbildung war, desto mehr wird die estnische Unterrichtssprache befürwortet.

Zum ersten Mal wurde ein Clustering durchgeführt, das bedeutet, es wurde anerkannt, dass die Nichtesten keine homogene Gruppe darstellen und zwischen den einzelnen unterschieden werden muss. Folgende Gruppen haben sich herauskristallisiert:

A. Die erfolgreich integrierten (21% der Nichtesten)

Junge, gut ausgebildete Büromitarbeiter. Sind gut materiell versorgt, sehen sich als die Mittelschicht. Sind estnische Staatsbürger, leben und arbeiten in estnischen Umgebung, haben unter Freunden und Bekannten viele Esten, sprechen perfekt Estnisch, verfolgen die estnischen Massenmedien und konsumieren sie, sind recht gleichgültig zu den russisch-sprachigen Massenmedien. Sie sind empfindsam zu vorurteilhaftem Verhalten und diskriminierenden und konfiktbehafteten Umgebung.

B. Die russisch-sprachigen Patrioten Estlands (16%)

Rentner und ältere Leute, die mittlere oder hohe Ausbildung haben. Zählen sich zur Mittelschicht, ihre materielle Lage ist nicht sehr gut. Kleines Einkommen, deswegen Unruhe, die meisten sind traurig wegen den modernen Veränderungen. Mehr als 90% zählen sich zum Volk Estlands und zählt Estland zur einzigen Heimat. Nehmen aktiv am Leben der volkstümlichen Vereine teil, Religion ist für sie wichtig. Halten sich für nicht diskriminiert.

C. Aktive und kritisch eingestellte, die estnische Sprache beherrschen (13%)

Das ist die jüngste Gruppe, 52% sin jünger als 35. Sie sind materiell gut versorgt, haben Ambitionen und sind kritisch eingestellt. Am meisten trifft man diese Gruppe unter den Auszubildenden (Schüler, Student). Nur 44% sieht sich als Teil des estnischen Volkes. Nur 56% haben estnische Staatsbürgerschaft, es herrscht die Meinung, dass die estnische Staatsangehörigkeit nicht nötig ist und einen schlechten Ruf hat. Die Hälfte nennt als ihre Heimat ein anderes Land: Russland, Ukraine, Finnland. Trauen weder der Politik Estlands noch Russlands. Verfolgen die estnischen Massenmedien. Gehen kaum zur Wahlen, doch ihre alternative politische Aktivität ist am höchsten. Sind unzufrieden mit dem Zugang zum qualitativ hochwertigen Studium und den Möglichkeiten zur Selbstrealisierung, der größte Teil ist bereit Estland zu verlassen.

D. Schwach integrierte (29%)

Kleines Einkommen, zählen sich zur Unterschicht der Gesellschaft. Hauptsächlich Arbeiter, es gibt auch Rentner und Arbeitslose, in kleiner Anzahl hochqualifizierte Spezialisten und Unternehmer. Es sind alle Altersgruppen vertreten. Das ist die traditionelle Zielgruppe der Integrationspolitik: mit schlechten Kenntnissen der estnischen Sprache, doch orientiert auf Estland, die Mehrheit von ihnen haben keine Staatsangehörigkeit. Der Hauptgrund des Fehlens der Staatsbürgerschaft ist die mangelnde Sprachkenntnis und Unfähigkeit zu Lernen. Wenig Vertrauen in staatliche Institutionen, materielle Not und Pessimismus.
Aktive Konsumenten der russisch-sprachigen Medien zum Thema Estland. 62% nahmen an den lokalen Wahlen Teil. Eine besondere Aufmerksamkeit brauchen die Jungen ohne Staatsangehörigkeit (in dieser Gruppe sind 32% unter 35 Jahre alt). Sie leben hauptsächlich in Tallinn und im Nord-Osten.

E. Passive und Nichtintegrierte (22%)

Das sind hauptsächlich ältere Leute (58% sind älter als 50), die nicht Estnisch sprechen und im Nord-Osten Estlands leben. Der größte Teil sind Rentner und Arbeiter. Recht niedriger Bildungsstand, 28% ohne höhere Bildung. Niedrige Selbstbenotung, zählen sich zu der untersten Schichten Estlands. Die Hälfte hat russische Staatsbürgerschaft, zwei Drittel zählen Russland zu ihrer natürlichen Heimat. Sind sehr passiv, nur ein Viertel nahm an den lokalen Wahlen teil. Interessieren sich wenig für das Leben in Estland, die Hauptquelle der Information sind die russischen Fernsehsender und Radio-4. Verstehen keine Information auf Estnisch und sind nicht fähig mit den Beamten sich auf Estnisch zu unterhalten.

Und nun? Es scheint, dass einige Annahmen über die Integration ziemlich falsch waren, vor allen dürfte es die Gruppe C gar nicht geben. Denn es sind junge Leute, die zu den Zeiten der Estnischen Republik sozialisiert wurden, sie sprechen Estnisch, viele haben die estnische Staatsangehörigkeit, doch sie sind von der Integration weiter entfernt, als die Gruppe B, die zwar schlecht Estnisch spricht, doch Estland als ihre Heimat betrachtet.

Ich habe gewisse Vermutungen warum es die Gruppe C gibt. Das sind diejenigen, die zwar vordergründig dieselben Chancen wie ihre jungen estnischen Mitbürger haben, doch recht häufig gegen die gläserne Decke laufen, die ihnen den Weg nach oben versperrt. Sie fühlen sich enttäuscht von den Versprechen der Integration, wie "Die Sprache füttert Dich", denn in der Realität sehen sie, dass sie nach wie vor nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert werden und sie können sich keinen Vorwurf machen, denn sie haben alles richtig gemacht. Ein anderer Punkt ist ihre Fähigkeit die estnische Presse zu verfolgen, die nicht selten durch Russophobie glänzt. Sie sind schlau genug, um zu wissen, dass es in Russland nicht besser ist, doch wie schon Puschkin sagte: Ich liebe es mein Volk und mein Land zu kritisieren, doch in mag es nicht, wenn ein Ausländer es tut. Recht häufig liest man, dass die Integration nicht nur bedeutet, die estnische Sprache zu lernen und die Staatsangehörigkeit zu bekommen, sondern auch Russland zu verteufeln, wie es die sogenannten "Integrasten" tun. Das bedeutet aber, sowohl ihre russische Kindheit (auch wenn sie in Estland geboren wurden), als auch ihre Vorfahren zu verleugnen, wozu nur die wenigsten bereit sind. Aus eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass immer wenn ich jemanden treffe, dessen Muttersprache Russisch ist, egal wo dieser Mensch jetzt lebt und wie lange er dort lebt, wechseln wir fast immer ins Russische, auch wenn wir miteinander auch Deutsch oder Englisch unterhalten könnten. Ich bin sicher, dass dieselbe Erfahrung die Gruppe C, die eigentlich ein Teil der Zukunft Estlands darstellen sollte, auch durchmacht und deswegen mit Auswanderungsgedanken in Länder spielt, in denen die Russophobie nicht ausgeprägt ist.

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