Dienstag, September 22, 2009

Kultur . Esten und Russen: Einfache französische Sicht

Übersetzung aus stolitsa.ee

Die Problematik der Beziehung zwischen Esten und in Estland lebenden Russen kann man erst lösen, wenn man die Besonderheit des Prozesses der Formierung des estnischen Volkes und des nationalen Selbstverständnisses begriffen hat. Das ist die Meinung des französischen Historikers Jean-Pierre Minaudier, der letzte Woche eine offen zugängliche Vorlesung im Konferenzsaal des Auswärtigen Amtes Estlands gehalten hat.

"Deutsches Produkt"

Es gab keine Nation. Gar keine. Nur Leute, die auf dem Lande und in den ärmlichen Vorstädten gelebt haben, die sich von der vermögenden Klasse hauptsächlich durch ihre Sprache und ihren sozialen Status unterschieden haben. "Estländer" - also Bewohner Estlands nannten sch öfters örtliche Deutsche, die sich von Preussen, Sachsen und Bayern absetzen wollten. Vorfahren jetziger Esten, die auf der sozialen Treppe aufsteigen konnten, wollten aus allen Kräften umgekehrt sich für Deutsche ausgeben…

Mit solchen Worten beschreibt Professor Minaudier die Sachlage auf dem Territorium des modernen Estlands vor zwei Jahrhunderten. "Man kann nur in dem Fall über eine Nation sprechen, wenn sich das Volk als solche begriffen hat - bemerkt der französische Historiker. Bei den Esten lief das Prozess des "Selbstverständnisses" in einer sehr kurzen historischen Periode ab. Die Epoche der nationalen Erweckung vollzieht sich in wenigen Jahrzehnten des XIX Jahrhunderts. Im Vergleich zu den Völkern des so genannten alten Europas ist diese Zeitdauer praktisch rekordverdächtig.

Zweifellos ist die Selbstfindung der Esten als eine eigene Nation keine einmalige Erscheinung in Europa. Parallel zu ihnen haben ähnliche Prozesse zum Beispiel die Finnen, die Letten, die Slowaken, die Kroaten durchlaufen. "Nationale Erweckungen" vor anderthalb Jahrhunderten sind Nebenwirkungen der Philosophie der nationalen Romantik, die zwischen XVIII-XIX Jahrhunderten in dem in hunderte Kleinfürstentümern zerteilten Deutschland geboren wurde. Das "Deutsche Produkt" wurde plötzlich zwischen Mittelmeer und der Ostsee gebraucht. Als das "ihriges" wurde es von Dutzenden von Völkern vereinnahmt, die in der Regel nicht in ihren nationalen Staaten, sondern unter einer fremden Herrschaft lebten.

Sprachstolz

"Das nationale Selbstbewusstsein der Esten hat sich in "vorstaatlichen" Ära formiert", unterstreicht Minaudier. "Das Bewusstsein als Nation wurde nicht mittels der Politik, sondern mittels der Kultur und der Sprache erreicht. Das ist eins der Unterschiede des Selbstbewusstseins der Esten und der "alten Europäer". Das nationale Selbstbewusstsein der Franzosen, zum Beispiel, basiert auf dem Fundament des Staates. Das ist kein Zufall, denn das Königreich Frankreich wurde mehrere Jahrhunderte vor dem Zeitpunkt erschaffen, als sich die Franzosen als eine Nation begriffen haben. Deswegen ist das wichtigste für einen Franzosen das Leben auf dem Gebiet des Staates, der Besitz des französischen Passes und nicht das Können der Sprache".

Bei den Esten ist es umgekehrt: Ein Mensch, der estnisch spricht, wird als "unser Este" angenommen, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft oder Staatsangehörigkeit. Und sogar vom Wohnort. "Für einen Franzosen ist es sehr schwer zu verstehen: ein französisch-sprechender Schweizer oder Belgier oder gar Einwohner des französisch-sprechenden Teils Kanadas kann kein Franzose sein", gibt Minaudier offen zu. "Umgekehrt, der in Frankreich lebender Baske oder Bretagner, der nicht die literarische französische Sprache spricht, wird unabhängig von seinem eigenen Verständnis von der Umgebung als Franzose wahrgenommen."

Die durch die Philosophen-Romantikern ausgerufene Treue zur Altertümlichkeit, hat ihren Eindruck auf das Verhältnis der Esten zu der Muttersprache geprägt und durch sie auf das ganze Modell des nationalen Selbstbewusstseins. "Finno-Ugrische Sprachen sind mit die archaischsten" - erinnert uns Minaudier. In Augen eines Esten gibt das ihr zusätzliche Wertigkeit und gibt einen Grund für Stolz: "Wir konnten etwas sehr Altes aufbewahren, trotz aller Widrigkeiten". Doch die Bewahrung der estnischen Sprache im Laufe der sieben Jahrhunderte fremdländischen Besatzung wurde durch zwei Faktoren ermöglicht: das Fehlen der deutschen Bauernschaft im mittelaltrigen Livonien (Fremdländischen wohnten in den Städten und mischten sich nicht mit der örtlichen Bevölkerung) und das Fehlen einer zielgerichteten Sprachpolitik bei den Mächtigen Livoniens - solchen Sachen schenkte man im Mittelalter überhaupt keine Beachtung.

Die Treue zu Anachronismen

Wie Professor Minaudier glaubt, wurde eines der ernsthaften Schläge für das nationale Selbstbewusstsein der Esten im XX Jahrhundert durch die Sowjetmacht zugefügt. Als Estland durch UdSSR geschluckt wurde, blieb vom erklärten "proletarischen Internationalismus" der zwanzigen Jahre keine Spur übrig. Die proklamierte Gleichheit aller Kulturen und Sprachen war ein Lippenbekenntniss der Regierung der Sowjetunion, tatsächlich hat sie nach dem Krieg das Model des "älteren Bruders - des russischen Volkes" und des "jüngeren Bruders - die Rolle der anderen Völker der UdSSR" angewendet.

"Das bedeutet nicht, dass die Sowjetmacht zielgerichtet das Baltikum russifizieren und Estland in ein "Kleinrussland" verwandeln wollte", unterstreicht Minaudier. Estnische Sprache und estnische Ausbildung waren niemals in der Sowjetunion verboten und die Politik Moskaus gegenüber Tallinn war viel weniger brutal als die Politik von Paris gegenüber Tunesien und Algerien. Doch die offiziell erklärte Zweisprachigkeit hat im realen Leben bedeutet, dass man ohne die Kenntnisse des Estnischen in Estland leben konnte, doch ohne die Kenntnisse des Russischen wurde es immer komplizierter. Der Bevölkerungszufluss, der die estnische Sprache nicht kannte und nicht lernen wollte, wurde von den Esten als ein Angriff auf das Fundament der estnischen Kultur gesehen, als "kulturelles Genozid".

Die Ursache der modernen Widersprüche zwischen Esten und örtlichen Russen entsteht nach Meinung Minaudiers mehrheitlich daraus, dass zwei nationale Ideen aufeinanderstossen - die "kulturelle" und die "staatliche". Um einander zu verstehen, müssen die Träger anerkennen, dass sie beide Recht auf Existenz haben. Obwohl sie in modernen, postmodernistischen Gesellschaft immer mehr und mehr zu einem Anachronismen werden.

Lion, Paris und Tallinn

Wie es aussieht hegt der französische Historiker die meiste Hoffnung auf Zeit. "Die Zeit der größten nationalen Traumas für Franzosen, die Epoche des Zweiten Weltkrieges, wird schon als Geschichte wahrgenommen", führt er aus. "Die Geschehnisse der vierziger Jahre ist das Erbe der Generation meiner Eltern. In Estland erinnert sich die Generation der Kinder an die Sowjetzeiten, sie sind meine Zeitgenossen. Dabei sind die Erinnerungen der Vertreter der beiden Gemeinden öfter diametral gegensätzlich. Das was für die einen eine "normale", "naturgegebene" Situation ist, wird von den anderen als Attentat auf die Existenz der Nation gesehen."

"Die Berührungspunkte zwischen der beiden Gemeinden werden immer mehr", erkennt Minaudier an. Dies kann man zum Beispiel beim Sport gut sehen, wo russisch-stämmige Sportler unter der estnischen Fahne auftreten, wobei sowohl die estnische, aber auch die russische Zuschauer für sie, wie für die "ihre" eintreten. Ich wurde angenehm über die Ergebnisse des Wettbewerbs über das Muster der estnischen Euro-Münzen überrascht: Die Einwohner haben sich für ein Symbol entschieden, das nicht einen nationalen, sondern geografischen Merkmal trägt - die Siluette der Grenzen der Estnischen Republik".

"Man kann sagen, dass das sprachliche Fundament des nationalen Selbstbewusstseins bei den Esten zum territorialem zu wechseln anfängt", stellt der französische Forscher fest. Doch ist dieser Prozess noch ganz am Anfang. Esten und Russen werden noch lange sich nicht zueinander so verhalten, wie die Einwohner von Paris und Lion."

Autor: Josef Kaz

Jean-Pierre Minaudier ist 1961 geboren.
Historiker-Diplom bekam er an der Hochschule Ecole Normale Supérieure.

Erlernte estnische Sprache im Pariser Institut für Ostsprachen. Zur Zeit unterrichtet er die estnische Geschichte und allgemeine Geschichte in Lycée La Bruyère in Versailles

2007 gab er das ausführlichste Werk über die Geschichte Estlands in französische Sprache heraus: Histoire de l'Estonie et de la nation estonienne.

Übersetzte vom estnischen ins französische historische und literarische Texte, darunter den dritten Teil des Werkes von A.H.Tammsaare "Wahrheit und Gerechtigkeit".

Samstag, September 19, 2009

Die Sicherheitspolizei kam zu den Historikern des Clubs "Front-Line"

Übersetzung von baltija.eu-Artikel

Mitarbeiter der Sicherheitspolizei Estlands (KAPO) haben eine Durchsuchung im Office des Militär-Historischen Clubs "Front-Line" in Tallinn durchgeführt. Das hat dem Korrespondenten des Informationsportals der Russischen Gemeinde Estlands (baltija.eu) ein Mitglied des Verwaltungsrates des Clubs, Kandidat in Tallinner Stadtrat Maksim Demidov berichtet.

Laut seinen Worten sind Vertreter der KAPO am 17.September diesen Jahres in das Office der Organisation eingedrungen und fingen ohne irgendwelche Erklärungen an eine Durchsuchung durchzuführen und Objekte zu konfiszieren, die "Front-Line" gehörten und als Exponate im improvisieren Museum ausgestellt wurden.

Nach der Forderung der "Front-Line" Mitglieder einen Durchsuchungsbefehl vorzuzeigen und den Grund des Eindringens zu begründen, hat das einer der Polizisten in Zivil abgelehnt. Ausserdem wurde Demidov, obwohl er zu der Verwaltung des Clubs gehört, in grober Form vorgeschlagen "den Raum zu räumen".

Im Verlauf der Polizeiaktion wurde eine einzigartige Waffenkollektion des Zweiten Weltkrieges konfisziert. Nach Aussage von Demidov hatten alle Objekte, die die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte auf sich gezogen haben, Zertifikate und Erlaubnis zur Aufbewahrung als Museumsexponate.

Ausserdem wurde ein Computer beschlagnahmt, der zu der Organisation gehörte.

Auf die Frage des Korrespondenten von baltija.eu über die mögliche Gründe der KAPO-Aktion hat der Kandidat in Tallinner Stadtrat nicht ausgeschlossen, dass sie mit der kommenden Teilnahme der Mitglieder des Militär-Historischen Clubs an Veranstaltungen, die dem 65-jährigen Befreiung Tallinns von Faschisten am 22. September zu tun haben könnten.

"Ich kann nicht mit Bestimmtheit die Gründe nennen, die die Sicherheitskräfte gezwungen haben auf unsere unpolitische Organization ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Ich kann nicht ausschliessen, dass die Handlungen der KAPO ein Versuch darzustellen einen Druck auf uns auszuüben, als auf eine Bewegung, die traditionell an allen Veranstaltungen teilnimmt, die mit der Erinnerung an die Helden des Grossen Vaterländischen Krieges zu tun haben. Gerade weil der 22. September ein bemerkenswertes Datum ist - Tag der Befreiung Tallinns von Faschisten und unser Club konnte selbstverständlich dieses Datum nicht ohne Aufmerksamkeit lassen" - sagte Maksim Demidov.

Der Militär-Historische Club "Front Line" wurde 2004 gegründet. Der Club vereinigte Aktivisten, die sich ernsthaft mit der Militärgeschichte auseinandersetzen. Bei der Gründung des Clubs wurde die Idee realisiert Menschen zu vereinen, die ihre Freizeit der Geschichtsforschung über die Armeen der auf der estnischen Teritorium kämpfenden Seiten widmen. Der Club führt regulär "militär-historische Rekonstruktionen" und "taktische Übungen im Gelände" in Estland und nimmt aktiv an ähnlichen Unternehmungen in Lettland, Litauen, Russland, Ukraine, Tschechien und anderswo teil.

Der Club führt ausserdem folgende zusätzliche Arbeit durch:

Suche, Identifizierung und Beerdigung der Überreste der Soldaten, die auf den Schlachtfeldern umgekommen sind, Archivforschungen;

Erkundung, Beschreibung und Pflege der Soldatenfriedhöfe auf Teritorium Estlands.

Treffen mit den Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Videoaufzeichnung der Erinnerungen der Veteranen und Schlachtteilnehmer.

Vorlesungen über Militärgeschichte.

Für aktive Tätigkeit bei der Pflege der Soldatenbegräbnisse wurde der Vorsitzende des Clubs Andrej Lazurin 2008 mit Dankesurkunde des Präsidenten der Russischen Föderation Dmitjij Medvedev ausgezeichnet, 2009 wurde er mit der Gedächtnismedalie Arnold Meries ausgezeichnet. Die Medalie wurde durch die Tallinner Gemeinschaft der Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges der Länder der Anti-Hitler Koalition und dem estnischen antifaschistischen Komitees zu Ehren des ersten estnischen Helden der Sowjetunion Arnold Meri geprägt.

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Die Presseabteilung KAPO teilte mit, dass die Durchsuchung im Office des Clubs "Front Line" im Rahmen einer Untersuchung über illegale Lagerung von Sprengstoff, Waffen, Munition und ihrer Bestandteile (Paragrafen 414 und 418 des Strafgesetzbuches) durchgeführt wurde.

Montag, September 14, 2009

Mein Land ist zerbrochen

Wenn man morgen an meine Tür klopft,
werde ich nicht mehr sein - ich kann nicht beschreiben,
wie ich vergangenen Abend mir Gedanken gemacht habe
über einen ehemaligen Hotelwächter,
der in "Viru" arbeitete. Er hiess Jüri. Jetzt ist Jüri Minister,
und alle seine Träume sind nur über eins: Ein Hotel namens Estland,
in dem er zum allmächtigen Besitzer werden könnte.

Wenn man mich morgen verhaften wird,
werde ich nicht mehr sein - und ich kann nicht beschreiben,
wie ich vergangenen Abend mir Gedanken gemacht habe
über einen ehemaligen Kommunisten aus der Stadt Tartu
namens Andrus. Heutzutage ist er Premierminister.
und träumen tut er nur, wie man Hunde, wie früher, losläßt,
auf alle, die er zu seinen Feinden zählt

Wenn man mir morgen früh Handschellen anlegen wird,
werde ich nicht mehr sein - und ich kann nicht beschreiben,
wie ich vergangenen Abend mir Gedanken gemacht habe
über einen Journalisten aus der örtlichen Zeitung,
heutzutage ist er Minister. Über Reino. Denjenigen,
der darüber träumt jeden hinter Gitter zu bringen,
der riskiert ein Photo von ihm zu machen.

Wenn man mich morgen verhaftet,
werde ich nicht mehr sein - und ich kann nicht beschreiben,
wie ich vergangenen Abend mir Gedanken gemacht habe
über ehmals ehrlichen Bauern Ivari,
der jetzt für den Premier zum Prügelknaben geworden ist
und nur davon träumt sich den Koffer vollzustopfen,
und nach Brüssel mit der ersten Maschine abzuhauen.

Wenn man mir morgen die Klappe halten befiehlt,
werde ich nicht mehr sein - und ich kann nicht beschreiben,
wie ich vergangenen Abend mir Gedanken gemacht habe
über einen Staatsmann. Entwaffnend ehrlich,
mit dem Namen Mart. Der jetzt unter dem Premier dient,
und nur davon träumt, wie
man Russland Krieg erklärt.

Wenn man mir morgen die Seele rausreißt,
werde ich nicht mehr sein. Und ich kann nicht flüstern,

dass meinem Land schlecht ist,

dass mein Land in Haft ist
und dass seine Arme hinter seinem Rücken zusammengebunden sind.

Ich kann nicht flüstern,
dass mein Land
am Boden eines Polizeiautos ist
halbtod verprügelt
mit trockenem Hals
und will nur verschwinden

Ich kann nicht flüstern,
über die blauen Spuren der Schlagstöcke
auf seiner Brust. Und über die Rippen,
die sie auch gebrochen haben.
Und über zerrissene Knorpel.

Ich kann nicht flüstern,
dass seine Füsse zusammengebunden,
die Knie zerschlagen sind
und Knochen gründlich zertrümert wurden 


Ich kann nicht flüstern,
welche Krämpfe seine Muskeln zerrten,
wie seine Zunge angebissen ist
und wer ihm die Augen auspickte



Ich kann nicht schreiben,
denn meine Arme werden zusammengebunden sein

Ich kann nicht erzählen,
denn man hat mir befohlen zu schweigen

Ich kann nicht flüstern,
denn meine Seele wurde mir rausgerissen
Mein Land ist gebrochen,
seine Seele traf der Schlag


Irja Tähismaa, Bloggerin, Coautorin "Vaba ühiskonna raamatust" (Buch der freien Gesellschaft)

Donnerstag, September 10, 2009

Die seltsame Geschichte der Arctic Sea

Über das Schiff Arctic Sea wurde schon in allen Weltsprachen sehr viel geschrieben, viel klarer ist die Geschichte deswegen nicht geworden. Ich verfolge recht aufmerksam die Geschehnisse, erstens weil sie mit Estland und Russland zu tun haben und zweitens weil ich eine gewisse Schwäche für Seegeschichten habe, und der erste Piratenangriff auf ein Schiff in der Ostsee seit dem 18.Jahrhundert ist ein sehr aussergewöhnliches Ereignis. Ausserdem kann man sehr interessante Beobachtungen über verschiedene politische Gruppen anstellen, wie sie mangels echter Fakten, ihnen ins Raster passende Interpretation der Ereignisse liefern. Ich werde versuchen, kurz die wenigen Anhaltspunkte zu berichten und danach viele Fragen stellen, auf die wir keine Antwort haben und wahrscheinlich nicht so schnell bekommen werden.

Am 08.08 hat die Zeitschrift "Морской Бюллетень Совфрахт" (See Bulletin Sovfracht) mit dem Hauptredakteur Michail Vojtenko berichtet, dass das Schiff Arctic Sea (Tragfähigkeit 4706 Tonnen, gebaut in Türkei 1992, 97.80m Länge), der unter maltesischer Flagge fährt und zwei russische Eigentümer hat, vermisst wird. Das Schiff sollte am 2-3-4(?).August den algerischen Hafen Bedjaia erreichen, ist dort aber nicht angekommen. Das Schiff hatte am 23.Juli Holz (Eigentum der finnisch-schwedischen Firma Enso Oyi, der größte europäische Papierproduzent) im finnischen Hafen Pietarsaari geladen, die finnische Firma Botnia Shipping, die die Beladung durchgeführt hat, sagte aus, dass das Schiff komplett unbeladen war. Davor wurde das Schiff in Kaliningrad repariert. Der Wert der Holzladung beläuft sich auf 1.3 Mio. EUR. Auf dem Schiff war eine 15-köpfige Besatzung, alles Staatsbürger der Russischen Föderation, die jedoch wohl zum ersten Mal in der Ostsee waren, normalerweise waren sie in der Nordsee, oder Schwarzem Meer eingesetzt. Ab jetzt wird vieles unklar.

Wie Daily Telegraph berichtet, wurde am 24.Juli das Schiff von 8-10 bewaffneten Männern geentert. Sie kamen mit einem Gummiboot mit der Aufschrift "police", stellten sich als Drogenfahnder vor und sprachen schlechtes Englisch. Angeblich wurde eine Nachricht darüber von der Besatzung an die Schiffseigentümer geschickt, woraufhin sie Polizei informierten. Ausserdem entstand der Eindruck, dass die Angreifer nachdem sie das Schiff durchsucht und die Teile der Besatzung verletzten, das Schiff verlassen haben. Ebensowenig klar ist, warum Schweden in dessen Territoralgewässern das Schiff sich zu dem Zeitpunkt befunden hat, nicht reagiert hat. Es scheint, dass man nichts Verdächtiges feststellen konnte, die Position des Schiffes wurde korrekt durchgegeben, es gab keine Alarmsignale und die Erkennung des Schiffes (das so genannte AIS-System) wurde nicht ausgeschaltet.
Die Abschaltung erfolgte wohl erst, nachdem das Schiff den Ärmel-Kanal passiert hat, also am 29.Juli.

Am 12.08 haben Verwandte der vermissten Seemänner einen offenen Brief an Ministerpräsident Putin geschrieben in dem sie ihn um Hilfe baten. Am selben Tag gibt Präsident Medwedjew einen Befehl an den Verteidigungsminister Anatolij Serjukov alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um das verschwundene Schiff zu finden. An der Suche nahmen angeblich zwei atomare U-Boote teil, plus die Anti-Uboot-Fregatte Ladnyj.

Am 14. August wurde das Schiff in der Nähe von West-Afrikanischen Inselgruppe Kape Verde von der Küstenwache gesichtet. Am 15. August wurde bekannt, dass bei den Schiffseigentümern Geldforderung in Höhe von 1.5 Mio. EUR eingegangen ist. Falls das Geld nicht bezahlt werde, wird man das Schiff versenken und die Mannschaft töten. Am 17. August wurde das Schiff von Besatzung des Anti-Uboot-Fregatte Ladnyj gestürmt und sie überwältigten die "Piraten", die in ihren Kajüten waren, ohne einen einzelnen Schuss abzugeben. Ein interessanter Fakt ist auch, dass nachdem Ladnyj über Funk um die Identifizierung des Schiffes gebeten hat, kam als Antwort, dass es sich um ein nordkoreanisches Schiff mit einer Ladung Palmenholz handle. Nachdem die Überprüfung ergeben hat, dass das tatsächlich existierende nordkoreanische Schiff in einem angolanischen Hafen liegt, wurde ein Boot zum Schiff geschickt, die Besatzung des Bootes überwältigte dann die "Piraten". Die "Piraten" und 11 Mann der Besatzung wurden mit zwei IL-76 (eines der größten Transportflugzeuge) nach Moskau gebracht und ins Gefängnis Lefortovo verlegt. Vier Besatzungsmitglieder blieben auf dem Schiff, das nach Novorossijsk (russischer Hafen am Schwarzen Meer) bugsiert wird. Angeblich ist das Schiff beschädigt (durch was und wie schwer)? Zur Zeit wird das Schiff von russischen Experten untersucht, bisher haben laut Berichten nichts Verdächtiges gefunden. Nachdem die 11 Mann der Besatzung einige Tage von der Öffentlichkeit isoliert wurden, konnten 8-9(?) von ihnen inzwischen nach Archangelsk zu ihren Familien zurückkehren. Jedoch weigern sie sich Journalisten Interviews zu geben.

Jetzt zu den "Piraten". Inzwischen sind die Namen bekannt. Es sind Evgenij Mironov (31), Dmitrij Savin, Vitalij Lepin, Andrej Lunev (44), Dmitrij Bartenev (41), Aleksej Buleev (30), Igor Borisov (45) und Aleksej Andrjushin (28). Mironov ist estnischer Staatsbürger, Lepin lettischer Staatsbürger, Bartenev und Lunev sind russische Staatsbürger, die in Estland leben, Borisov, Buleev und Savin sind staatenlos, leben aber in Estland, die Staatsbürgerschaft von Andrjushin ist unklar, er lebte wohl auch in Estland oder Lettland. Wie die russische Presse schreibt, gaben sie folgende Version der Geschehnisse zu Protokoll: Sie sind Ökologen und starteten in Pärnu. Als ihnen Benzin ausgegangen ist, sind sie an Bord von Arctic Sea gekommen und fragten den Kapitän, ob er sie an einem europäischen Hafen absetzen könnte. Das hat der Kapitän jedoch verneint und hat sie mit nach Westafrika mitgenommen (Jack Londons Seewolf lässt grüßen). Direkt nachdem die Namen bekannt wurde, hat die KAPO die Wohnungen der Beschuldigten in Lasnamäe durchsucht und wie der Bruder von Dimitrij Bartenev, Aleksej sagte, wurde der Computer und einige persönliche schriftliche Aufzeichnungen mitgenommen. Laut dem Bruder, der auch einige andere der "Piraten" kannte, hatten sie vor am 17. Juli nach Spanien zu fahren, um dort Geld zu verdienen. Wie die estnische Staatsanwaltschaft berichtet hat (grobe Verletzung des Datenschutzes übrigens), waren zwei von ihnen vorbestraft und sassen im Gefängnis, Mironov wegen Totschlags, Bartenev wegen Fahren im betrunkenen Zustand, die anderen hatten Probleme mit Justiz wegen kleineren Vergehen. Verschiedene Zeitungen fanden andere Bekannte der "Piraten", keiner von ihnen konnte sich eine Aktion solchen Massstabes von diesen Leuten vorstellen, soweit ich verstanden habe, hatte keiner von ihnen grosse Seefahrtserfahrung.

Soweit die Fakten. Sie werfen eine Menge Fragen auf, die ich in chronologischen Folge zu stellen versuche:

1. Woher wussten die Piraten, wo das Schiff sich befunden hat? Es war dunkel, die Frachtschiffe sehen sich zum Verwechseln ähnlich aus
2. Warum hat der Kapitän nicht VORHER der Küstenwache bescheid gegeben, dass er Leute an Bord nehmen wird? Laut estnischen Seefahrtexperten ist es eine Standardprozedur.
3. Wie wahrscheinlich ist es, dass die "Piraten" tatsächlich mit einem Gummiboot aus Pärnu sich nach Schweden aufmachen? Russisch-sprachige Männer, die aus Estland in den See stechen, erregen weniger Verdacht, als in Schweden oder Finnland, aber trotzdem ist es ein grosses Risiko. Und wie gesagt, viel Seefahrterfahrung hatten die Leute nicht.
4. Wenn die Piraten bewaffnet waren, hatten sie die Waffen noch, als die Leute von Ladnyj das Schiff stürmten? Oder haben sie die Waffen weggeworfen, damit sie die Ökologen-Story besser erklären können?
5. Woher kamen die Gerüchte auf, dass das Schiff von Piraten verlassen wurde? Warum passierte nichts zwischen 24-29. Juli? Nach einem Piratenangriff hätte das Schiff doch sofort den nächsten Hafen anlaufen müssen, wegen polizeilichen Untersuchung und evtl. ärztlicher Hilfe, denn Teil der Besatzung wurde ja zusammengeschlagen? Wenn das nicht geschehen war, warum hat kein Anrainerstaat reagiert?
6. Wie hat ein Schiff unter fremdem Kommando es geschafft von der Ostsee in die Nordsee und danach durch Ärmelkanal ins Atlantik zu kommen, ohne dass eines der Anrainerstaaten Lunte gerochen hätten?
7. Laut estnischen Experten haben heutige Schiffe mind. 2x-fach abgesicherte Alarmsysteme, deren Abschaltung alles andere als trivial ist. Also müssen die Angreifer gute Elektronik-Kenntnisse gehabt haben, um beide Systeme zu überlisten.
8. Wo war das Schiff zwischen 29.Juli und 14.August? Warum verliess es nicht die Kabo-Verdschen Inseln zwischen 14-17. August? Wurde da irgendwas abgewartet?

Jetzt ein paar Fragen zu Verhalten Russlands

9. Wie erklärt man, dass die Suche nach einem unbedeutendem Schiff sowohl den Ministerpräsidenten, als auch Präsidenten Russlands beschäftigt? Medvedev beauftragt medienwirksam den Verteidigungsminister nach dem Schiff zu suchen, er schickt Atom-U-Boote (die angeblich von der amerikanischen Küste abgezogen wurden) und Fregatten der Schwarzmeerflotte. Ist das nicht etwas Overkill?
10. Ist es nicht Overkill gleich 2 der größten Transportmaschinen nach Kapo Verde zu schicken, um 20-30 Leute abzuholen?
11. Recht primitiv ist dagegen der Trick, den Akt der Piraterie aus den schwedischen Territorialgewässern in internationales Gewässer zu verlagern, damit sich die Schweden nicht möglicherweise einmischen.
12. Ist es vielleicht auch ein Trick, 4 Leute der Besatzung auf Arctic Sea zu lassen? Es sind die Leute, die, falls es Komplizen an Bord gab, noch am ehesten in Frage kommen könnten. Dazu passt es, dass sie wohl nicht frei nach Hause telefonieren dürfen. Ausserdem sind 2 oder 3 Mitglieder der nach Moskau ausgeflogenen Mannschaft nicht nach Archangelsk zu ihren Familien zurückgekehrt.
13. Russland hat zugegeben, dass sie die ganze Zeit über den Verbleib des Schiffs wusste, es war wohl auch eine Zusammenarbeit von 20 Geheimdiensten, die ständig Informationen ausgetauscht haben. Warum wurde nicht früher eingegriffen? Wurde Zermürbungstaktik gewählt? Einfach abgewartet, bis Piraten müde und unachtsam werden? Normalerweise sind die russischen Sondereinsatzkräfte bei der Befreiung von Geiseln nicht sehr zimperlich.
14. Was passierte mit dem Hauptredakteur von See Bulletin Michail Vojtenko? Nach seinen Berichten über Arctic Sea, flüchtete er plötzlich in die Türkei (ein Land ohne Visum-Pflicht für Russen), wo er noch lautstark Interviews gab, dass einflussreiche Leute ihm nahegelegt hätten das Land zu verlassen. Nach ein paar Tagen Istanbul befindet er sich wohl jetzt in Thailand (ein anderes Visum-freies Land), hier versteckt er sich tatsächlich, ich habe noch keine Interviews mit ihm gesehen.

Bei so vielen offenen Fragen, ist es klar, dass alle möglichen Theorien blühen, wobei selbst seriöse Journalisten, die durchaus was zu verlieren haben, wie Julia Ladynina (für die, die sie nicht kennen, sie war die erste russische Journalistin, die die Zahl der Todesopfer in russisch-georgischen Krieg stark bezweifelte und nach unten korrigierte) behauptet, dass auf dem Schiff illegale Waffen geschmuggelt wurden. Die Rede ist manchmal von Flugabwehrraketen für Iran oder Syrien, oder von Flugzeugraketen für biologisch-chemische Massenvernichtungswaffen, bis zu Marschflugkörpern für palästinensische Terroristen aus der russischen Produktion. Alle diese Waffen sollen in Kaliningrad während der Reparaturarbeiten ans Bord gebracht worden sein. Doch die finnische Beladefirma behauptet, dass das Schiff leer gewesen sei. Die Meinungen gehen auch auseinander, ob die russische Regierung davon von vornherein was wusste, oder erst später davon erfuhr und grosse Flugzeuge schickte, um das Zeug wieder mitzunehmen. Angenommen es war wirklich der Fall, das erklärt auch die grossen Anstrengungen Russlands mit den Atom-U-Booten. Doch warum hängen es die Russen dann an die grosse Glocke? Ist so was nicht eher peinlich und soll unter allen Umständen vertuscht werden? Und wie passen die estnischen Amateurpiraten dazu? Und wenn man wirklich Iran mit Waffen versorgen möchte, warum muss es über Algerien, an Israel vorbei nach Iran geschmuggelt werden, wenn das Kaspische Meer doch viel näher ist?

Es könnte irgendwas kleines sein, was man leicht verstecken kann und trotzdem einen grossen Wert hat. Doch braucht man für so was wirklich ein Schiff, per Flugzeug notfalls im Diplomatengepäck sind solche Sachen genauso transportierbar.

Aus obergenannten Gründen kann man Transport von etwas regierungswichtigem ausschliessen. Und die Reaktion Russlands kann man mit purem Populismus und politischen Berechnungen erklären. Schon während des Süd-Ossetischen Konflikts hat Russland erklärt, keinen russischen Staatsbürger im Stich zu lassen. Der Fall Arctic Sea war ideal, diese Strategie nochmals lautstark zu bekräftigen. Sehr passend dazu wurde gestern ein Gesetz in der ersten Lesung verabschiedet, der es den russischen Streitkräften erlauben würde, andere Länder zu betreten, ohne diesem Land Krieg zu erklären, um die in Schwierigkeiten sich befindende russische Staatsbürger zu retten. Arctic Sea war PR für dieses Gesetz.

Die zweite Theorie ist Transport von Drogen oder anderen illegalen Sachen, die aber nicht Interessen von Staaten betreffen. Wiedermal ist es unklar, wie grosse Mengen Drogen aufs Schiff gekommen sein können. Auch stellt sich die Frage, was die Angreifer denn vorhatten? Warum war es notwendig mit dem Schiff nach Afrika zu schwimmen? Wo sind die Drogen jetzt?

Die dritte Theorie, die mit Vorliebe von estnischen Politikern erzählt wird, ist die Vermutung, Russland hat diesen Zwischenfall inszeniert, um die militärische Präsenz in der Ostsee zu erhöhen, auch in Hinblick auf Nordstream-Pipeline Projekt. Das setzt voraus, dass russischer Geheimdienst mit "Piraten" aus Estland zusammengearbeitet hätte, was eine schallende Ohrfeige für KAPO bedeuten würde, wenn sie so was übersehen hätte. Für eine Inszenierung hätte es komplett gereicht, das Schiff pro forma zu besetzen und ein paar Tage in der Ostsee zu driften, um sich dann von der russischen Marine festnehmen zu lassen, die ganze Jagd in Atlantik und vor allen die Durchfahrt dorthin wäre komplett unnötig und viel zu gefährlich gewesen. Ausserdem scheint Russland bisher mit Beschuldigungen jeglicher Art stillzuhalten.

Die vierte Theorie ist Geiselnahme und evtl. Versicherungsbetrug. Wie stolitsa.ee schreibt, ist bekannt, dass die Schiffseigentümer zerstritten sind und die Firma grosse finanzielle Sorgen hat. Deswegen war evtl. der Plan, das Schiff zu kapern, nach Afrika zu schwimmen, es dort zu verkaufen und Teile der Mannschaft das nicht in den Plan eingeweiht ist, zu töten oder Lösegeld für sie zu verlangen. Damit passen einige Puzzle-Stücke. Entweder der Kapitän, oder einer der hochrangigen Offiziere waren in den Plan eingeweiht, sie gaben die Koordinaten für die Piraten durch, die notwendig waren, um das Schiff zu finden und den Rest der Mannschaft zu überwältigen. Vielleicht wussten gar nicht alle Piraten, auf was sie sich da einlassen. Der hochrangige Mitwisser konnte das Schiff in Atlantik rausnavigieren und dann die Ortung ausschalten. Doch womit keiner gerechnet hat, war die Tatsache, dass die Entführung früher bekannt wurde und Russland Arctic Sea zur Demonstration seiner neuen Politik erwählt hat. Viel hat die Besatzung Michail Vojtenko zu verdanken, durch den der Fall Arctic Sea überhaupt bekannt wurde. Doch seine Theorien über Waffen an Bord, passten nicht ins Konzept, also wurde beschlossen, ihn mit psychischen Terror zum Schweigen zu bringen, was auch gelungen ist. Die russische Opposition hat sich blamiert, indem es unbegründete wilde Theorien in die Welt setzte und die russische Flotte hat sich mit Ruhm bedeckt.

Beenden möchte ich diesen Artikel mit einem Zitat aus dem Film Burn After Reading, die Schlussszene:

Kabinett CIA

Chef: Leck mich am Arsch, und was lernen wir daraus Palmer?
Palmer: Ich weiss es nicht Sir
Chef: Scheisse, Ich weiss es auch nicht. Schätze wir sollten das nicht wiederholen
Palmer: Ja, Sir
Chef: Wenn ich nur wüsste was eigentlich
Palmer: Ja, Sir, das ist schwer zu sagen
Chef: Gott, was für ein Riesenscheissdreck