Samstag, September 22, 2007

Stell Dir vor es ist Krieg und keiner merkt's

Im Mai direkt nach den Bronzenen Nächten wurden die Befürchtungen gross, dass Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen Estland verhängen könnte. Offiziell kann sich Russland zwar diesen Schritt nicht erlauben, in Rücksicht auf die EU und mit der Aussicht auf die Aufnahme in WTO, doch wurde erwartet, dass inoffiziell entsprechende Verordnungen erlassen werden. Estnische Politiker haben vorsorglich vorgerechnet, dass die Wirtschaftsleistung des Transitverkehrs ca. 3-4% des Brutto-Inland-Produktes Estlands beträgt und Russland ein eher unwichtiger Handelspartner ist. Unmittelbar schien es keine Auswirkungen zu geben, zwar haben einige russische Handelsketten lautstark verkündet estnische Waren aus dem Sortiment zu nehmen, aber der Transit schien nicht abgenommen zu haben. Doch erst jetzt fängt man die vollen Auswirkungen der Wirtschaftskrieges (und ich nenne es bewusst Wirtschaftskrieg) zu spüren.

- Zuerst ein Beispiel aus meinem Bekanntenkreis. Er hat versucht in einem russischen Versandhandel als Privatperson elektronische Bauteile zu bestellen, was jahrelang ohne Probleme möglich war. Jetzt hat die russische Post sich geweigert Postsendungen nach Estland zuzustellen.

- Die Lastwagenschlangen an der russisch-estnischen Grenze dauern 9 Tage. Eine Lastwagenladung von Estland nach Moskau überzufahren kostete früher 20000 Kronen, jetzt kostet solch eine Überfahrt 40000 Kronen.

- Russischer Zoll soll eine Liste bekommen haben, auf der 29 estnische Transportfirmen verzeichnet sind (King Cargo OÜ, Tarmo Trans OÜ, Autobaas OÜ, Transiitveod AS, Veles Avto OÜ, Logolos OÜ, Raku Transpordi OÜ, Viva Trans OÜ, Murin OÜ, Allante Transport AS, Massiner OÜ, Mortimer Grupp OÜ, Astep OÜ, Hermor OÜ, Levekol AS, Triolena OÜ, Solidago AS, Oma Auto OÜ, Krotona OÜ, MNC Transport OÜ, Vjana OÜ, Veovägi OÜ, Ortal OÜ, Paniver OÜ, Ritolan OÜ, Legerotti OÜ, Ferry Ins OÜ, Pärnu Auto ETM OÜ, Järwa Trans OÜ), wobei die Liste dauernd erweitert wird. Die Lastwägen dieser Firmen werden an der Grenze besonders gründlich überprüft. Die Überprüfung dauert 2-3 Tage und kostet dem Fahrer 16000 Rubel. Wenn die Überprüfung in Ordnung war, darf der Lastwagen bis zum Zollamt des Zielortes nur in Begleitung eines Spezialkonvois fahren. Solche Konvois werden nicht jeden Tag zusammengestellt, was wieder zur Verzögerung führt. Beim Zollamt des Zielortes wird der Lastwagen erneut geprüft. Und erst nachdem die Ware versteuert und verzollt wurde, kann sie an den Empfänger geschickt werden.

- Druck wird auch von der Seite der Steuerinspektion gemacht. Es gibt Berichte, dass russische Businesspartner sich zurückziehen, wenn sie erfahren, dass sie mit einer estnischen Firma zu tun haben. Als Konsequenz wird versucht die Firma in einem anderen Land z.B. in Finnland oder in Litauen zu registrieren, was Zeit und Geld kostet.

- Unter den am meisten Betroffenen ist die estnische Eisenbahn, deren Hauptgeschäft bis jetzt Transit auf der Ost-West Achse gewesen ist. Im Vergleich zum Anfang des Jahres hat die (erneut verstaatlichte) Eisenbahn bis zu 40% weniger Waren transportieren können. Als Konsequenz werden voraussichtlich 200 Mitarbeiter entlassen.

Alle diese Beispiele schädigen estnische Wirtschaft viel mehr als der Cyberkrieg, der von der Parlamentsspeakerin Ene Ergma mit einer atomaren Explosion verglichen wurde und den der Verteidigungsminister schon als einen bewaffneten Angriff auf einen NATO-Staat definierte. Doch in diesen Fällen bleibt die estnische Regierung merkwürdig still, kein Kommentar, keine Bitten um Unterstützung, keine lauten Aussagen, nichts. Warum ist das so? Vielleicht weil man wider jeder wirtschaftlichen Vernunft alles versucht, so wenig Kontakte mit Russland wie möglich zu haben? Weil viele der Beschäftigten in Transit selbst Russen sind und so am meisten von den Entlassungen betroffen werden? Vielleicht lag der Sinn des lauten Gebärens während der Cyberattacken ganz wo anders, nämlich in der Einrichtung eines NATO-Kompetenzzentres für Internet-Attacken in Estland? Natürlich liegt die Hauptverantwortung für die Blockade bei Russland, wo Politik ihre nationalistische Karte ausspielt und damit bei der Bevölkerung auf volle Zustimmung stößt, doch scheint in diesem Fall die estnische Regierung mitzuspielen, obwohl ein lautstarker Protest und Druck auf EU und andere Wirtschaftsverbünde hier mehr als angemessen wäre.

Der Fall Nord Stream

Eine neue Front hat sich gerade erst eröffnet. Am 20. September hat die estnische Regierung dem Konsortium Nord Stream offiziell die Erlaubnis verweigert, Gewässer in der estnischen ausschliesslichen Wirtschaftszone zu erkunden, weil bei der Erkundung Hinweise auf den Umfang der Bodenschätze am Meeresboden und ihre Nutzung geben könnte. Wie es aussieht wurde die Hoffnung noch nicht begraben Öl im Finnischen Meerbusen zu finden. Um zu verstehen, warum eine solche hanebüchene Begründung notwendig wurde, muss man die Definition der "Ausschliesslichen Wirtschaftszone" begreifen. Der Unterschied zu den Hoheitsgewässern, die lediglich 12 Seemeilen betragen, und in denen alle Gesetze des Staates gelten, ist, dass in der 200 Seemeilen umfassenden Wirtschaftszone der Staat zwar ein Vorrecht auf die wirtschaftliche Nutzung hat, also Fischerei, Nutzung der Bodenschätze, aber kaum ein Recht hat, Verlegung von Kabeln oder Röhren zu verbieten, es sei denn, seine Wirtschaftsinteressen werden dadurch beeinträchtigt. Deswegen wurde es notwendig eine Erklärung zu finden, wie die Erforschung des Meeresbodens für Gaspipeline unmittelbar auf die estnische Wirtschaft Einfluss haben könnte. Mit dieser Entscheidung, die übrigens der Empfehlung des Aussenministeriums widerspricht, stösst Estland vor den Kopf nicht nur der Nord Stream AG mit dem Vorstandsvorsitzenden Gerhard Schröder und der Muttergesellschaft Gazprom, sondern auch allen EU-Ländern, die an die Gaspipeline angebunden werden wollen (zur Zeit sind es Deutschland, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Frankreich, ausserdem gibt es Planungen Lettland einzubinden). Estland verspielt jede Chance sich an den Planungen zu beteiligen, bei der Durchführung des Projektes sich einzubringen (was finanziell durchaus lukrativ ist) und beim Betrieb der Pipeline einen Servicehafen zu bekommen, was durchaus in Gespräch war. Aber das passt zu allem obenbeschriebenen sehr genau. Der Wunsch möglichst keine Wirtschaftsbeziehungen mit Russland zu haben ist größer, als jede Chance die Ökonomie des Landes zu stärken.

Auszüge aus dem Interview mit dem estnischen Akademiker Michael Bronstein, der von 1991-1995 als Wirtschaftsberater in der estnischen Botschaft in Moskau gearbeitet hat und dessen Spezialgebiet Logistik und Transit sind. Das Interview erschien bevor die Entscheidung der estnischen Regierung über die Anfrage von Nord Stream bekannt wurde:

- Wie beurteilen sie den Zustand des estnischen Transits im Vergleich zum letzten Jahr?

- Vor einem Jahr waren wir das am weitesten entwickelte Transitland unter den baltischen Ländern. Der durch Estland gehende Transitverkehr hat sich am dynamischsten entwickelt. Das hatte Vorteile sowohl für Russland, als auch für Estland. Russland hatte Vorteile, weil als ich in der estnischen Botschaft in Moskau gearbeitet habe und der Premier-Minister Tiit Vähi war, haben wir mir Russland ein Abkommen geschlossen, in dem wir einen zollfreien Transit angeboten haben.

- Wie beurteilen Sie die Aussagen einiger unsere politisch Aktiven, dass der Anteil der Transits an unserem Bruttoinlandsprodukt nicht bedeutsam ist?

- seinerzeit hat auch Andrus Ansip behauptet, dass nach der Beurteilung der Experten der Anteil 3-4 Prozent beträgt. Vor kurzem erschien ein Artikel in Postimees von dem Experten Raivo Vare, wo er über komplett andere Zahlen spricht. Tõnis Palts schreibt, dass er 5-10 Prozent beträgt, aber auch er untertreibt. Transit ist nicht nur Warenfluss, aber auch das was man bei euch in Ida-Virumaa erzeugt und exportiert auf der Basis der russischen Rohstoffe. Transit sind auch die Geldflüsse und logistische Systeme. Wenn man alles in Betracht zieht was uns mit Russland verbindet, dann wirkt unser östlicher Nachbar auf 25-30% unseres BIPs aus. Das wir jetzt ca. die Hälfte des Transits verloren haben, hat sich gleich auf einer rasanten Verlangsamung des Wachstums unseres BIPs gezeigt. Transit ist eine Balance der Wirtschaft, der besonders wichtig ist im Umfeld der bei uns anfangenden wirtschaftlichen Depression.

- Kann man diese Sanktionen seitens Russland, als staatlich verordnete wahrnehmen?

- Offiziell hat Russland keine Sanktionen erlassen, aber durch bestimmte Kanäle wurden entsprechende Verordnungen erlassen, dass die russischen Transfers und Kapital Estland verlassen sollten, da es ein unfreundlicher Staat ist. Umfragen zeigen, dass 60 Prozent der Russen Estland als ein feindliches Staat ansehen.

- Das ist hauptsächlich ein Ergebnis der Propaganda...

- Natürlich ist das ein Ergebnis der Propaganda. In Russland sind Wahlen vor der Tür, öfters dominiert Politik über Business - wie in Russland, so auch bei uns. Aber wir geben ständig Gründe für Russland für die Durchführung dieser Schritte.

- Also ihrer Meinung nach in schlechten estnisch-russischen Beziehungen immer ist hauptsächlich Estland schuld?

- Beide Seiten sind schuld. Wie bei uns so auch in Russland gibt es Politiker, die Karriere durch Entfachung zwischennationaler und zwischenstaatlicher Konflikte bauen. Aber es sollten wirtschaftliche Interessen dominieren. Wir mussten unsere politische Unabhängigkeit wiedererlangen, mussten der EU beitreten, aber es bedeutet nicht, dass wir unseren östlichen Markt verlieren sollten. Lettland, zum Beispiel war zuerst viel kritischer Russland gegenüber eingestellt als Estland und sie haben auch Probleme bekommen. Doch hat Lettland ihre feindliche Rhetorik Russland gegenüber aufgegeben und fängt gerade an die Sahne des Transits abzuschöpfen. Und nicht nur den russischen, sondern auch den chinesischen.

- Und was sollten wir tun?

- Zuerst unsere geopolitische Lage begreifen. Nach der Expertenbewertung eine richtige Nutzung der Brückenfunktion zwischen Ost und West erhöht unser Ressourcenpotential um 30 Prozent. Wenn wir uns in europäische Sackgasse verwandeln, verlieren wir 30 Prozent. Wenn ich die letzten Aussagen von Andrus Ansip lese, sehe ich, dass sie viel ausgewogener geworden sind, als die früheren. Zum Beispiel auch diejenigen, die die Verlegung der Gaspipeline durch das Wirtschaftsgewässer Estlands angeht (wie gesagt, das Interview wurde vor der Entscheidung geführt. Anm. des Übersetzers).

- Waren Sie Teil der Gruppe der estnischen Akademiker, die das Projekt der Gaspipeline kategorisch verneint haben und der Meinung sind, dass Estland es nicht erlauben sollte die Pipeline in ihrem Wirtschaftsgewässer durchzulegen?

- Nein, auf keinen Fall. Übrigens ist es nicht Entscheidung der Akademie der Wissenschaften. Die Rede ist von einer kleinen Gruppe von Akademikern, die von von mir geschätztem Akademiker Endel Lippmaa geleitet werden, und über die ernsthafte Risiken, die die Umwelt betreffen, sprechen. Gleichzeitig bieten alle drei baltischen Länder an, die Pipeline quer durch ihr Territorium zu verlegen - wäre das ohne Risiko? Russland hat abgelehnt, weil es traurige Erfahrungen mit Weissrussland und Ukraine hat.

Ein Nachtrag zum Artikel über Energieversorgung Estlands. Ich habe diesen interessanten Artikel gefunden (bei Interesse kann ich ihn übersetzen). Vielleicht sollte sich Estland genauer mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen, Kohle auf Spitzbergen abzubauen?

Samstag, September 08, 2007

Was folgt auf Terminal D?

Vor kurzem habe ich einen Brief von Herrn Dornemann bekommen, den ich hiermit veröffentliche. Zur Erinnerung, Klaus Dornemann wurde zusammen mit seinem Sohn Lukas und ca. 800 anderen Leuten in der Nacht vom 27-28.April im berühmt-berüchtigtem Terminal D des Tallinner Hafens eingesperrt und von der estnischen Polizei schwer misshandelt. Seine Erlebnisse hat er in diesem Brief niedergeschrieben. Eine Zeitlang haben sich verschiedene Medien auf die Geschichte gestürzt, allerdings war die Aufmerksamkeit von kurzer Dauer. Von offiziellen Seite gab es kein Wort an Entschuldigung. Aber liest selbst:

Nun sind ein paar Monate ins Land gegangen, seit den demokratischen Entgleisungen estnischer Prägung und niemand redet mehr darüber; in der Welt nicht und hier in Estland im Besonderen nicht. Man scheint verständlicher Weise froh zu sein, daß sich nichts mehr rührt; obwohl sich viele Möchtegern-Retter der Menschlichkeit bei mir gemeldet haben, waren es doch allesamt nur Warme-Luft-Macher oder Laberköppe, wie z.B. ein Herr Kolb oder auch ein seltsamer „Reporter“……… von der Sachsenzeitung und viele mehr, wer immer sie auch sein wollen.
Natürlich habe ich das meiner Welterfahrung zufolge so geahnt, denn die estnischen Verantwortlichen sind oftmals nicht nur unerfahren im Weltgetriebe, sondern auch der Aufgabe zur Führung eines Staates nicht gewachsen (Andrus Ansip).Viele Anfeindungen mußte ich von fast ausschließlich estnischen Bevölkerungsteilen hier hinnehmen, bis hin zu Drohungen gegen meine Person.

Sicherlich haben mir all jene, die ich damals anläßlich der Probleme des „Russendenkmals“ angeschrieben habe auch geantwortet, doch nun betrachtet, war das allesamt nur Gewäsch. Der einzige, der Bedauern zu dem Vorfall ausgesprochen hat, war Exelenz Julius Bobinger, der deutsche Botschafter.
Benehmen ist eben „Glücksache“ und Demokratie ist bestimmt keine estnische Leidenschaft, nichteinmal ansatzweise. Bedauerlich wie es ist.

In akzeptablem Zeitabstand erhielt ich seinerzeit die oben erwähnten Antworten, natürlich auf estnisch und ich konnte mir mühsam eine ungefähre Übersetzung zusammenklauben. Das war wohl so gewollt. Keine qualitative Aussage war dabei. Wie man bei uns sagt, nur „Larifari“, das gibt`s bestimmt nicht im estnischen Sprachgebrauch.

Was aber ist sonst daraus geworden? Wenn man mal die Grundrechte in der estnischen Verfassung betrachtet, hat man staatlicherseits so ziemlich alles anders gemacht, als es dort so schön geschrieben steht.
Zuallererst stellt der § 9 der estnischen Verfassung fest, daß auch sich hier im Lande aufhaltende, ausländische Bürger in den Rechten, Freiheiten und Pflichten, denen der estnischen Bürgern gleichgestellt sind und garantiert jedem (§13) den Schutz des Staates vor Willkür.
Nun trafen aber alle starken Verfassungsaussagen (§ 18) auf meine am 27. April gemachten, bösen Erfahrungen nicht zu, denn exakt Folter kann man das grundlose Fesseln und die grausige Behandlung durch unvermittelte, ebenso wie die grundlosen Tritte und Schläge mit Gummiknüppeln, völlig ziellos, werten. Also auch gegen Kopf und Geschlechtsteile. Auch die verwehrte Möglichkeit von Trinkwasseraufnahme über mehr als elf Stunden ist ein Foltermerkmal! Daß die Festnahme, der Transport und das Gefangenhalten völlig unwürdig waren, werden alle dorthin (Terminal D) verbrachten sehr wohl bestätigen, wenn sie denn nicht Angst vor erneuter staatsgewaltlicher Willkür hätten. Das wurde mir viele Male so gesagt und ist auch Grund dafür, daß außer mir wohl niemand sich zu Protokoll meldete.
Auch nach eingehender Prüfung der aufgezählten Gründe 1 - 6 des § 2o trifft für mich und meinen Sohn Lucas im Besonderen, aber auch nicht für den größeren Teil der mit uns gefangenen, zu!
Von dem § 21, der ja recht wesentliches aussagt, hatten die Staatsgewaltler (meistens Polizisten) ohnehin keine Ahnung und wenn denn, ignorierten sie allesamt eine Information über ihre Handlungsweise, und das schon garnicht in einer für uns „verständlichen“ Sprache, zu geben.
Wie ich anfangs schon schrieb, scheint alles sich im Sande verlaufen zu haben; neben einer Entschädigung wie im § 25 ausdrücklich zugesichert, für meine zerrissene Bekleidung als Folge der Schläge und Tritte und des zu Boden stürzens, wäre eine Entschuldigung durch eine kompetente Persönlichkeit ( vielleicht sogar in einer für mich verstänlichen Sprache) das Mindeste. Über die körperlichen, massiven Mißhandlungen wurde mir von einem „Polizeiverwaltungsexperten“ anläßlich einer Anhörung lapidar erklärt, ich könne ja zu Gericht gehen und Schadenersatz von den Schlägern einklagen, nur Namen derer dürfen nicht herausgegeben werden.
Das ist besonders im heutigen Estland leichter gesagt als getan, zumal die Polizisten ohne Ausnahme keine Namenschilder trugen, warum auch immer, viele waren vermummt und alle antworteten nicht auf Fragen. – Übrigens werden ermittelte Namen nicht weitergegeben. Nun sage mir bitte jemand, gegen wen ich klagen soll?
Außerdem ist der Dienstherr, für mich als Außenstehenden, ersteinmal der Ansprechpartner und der sollte seinen verfassungsgemäßen Vorgaben gerecht werden.

So hat der Bürger Estlands zwar großzügige Rechte, nur wie er daran kommen kann, können ihm die allmächtigen Behörden aus purem Unvermögen nicht sagen. So ist denn die vielversprechende Aktion für die Demokratie ausgegangen wie das Hornberger Schießen, nur eben auf estnisch.

Mehr und mehr zeigt die Erfahrung, daß die estnischen Behörden ausgesprochen oberflächlich sind und durchsetzbare, demokratische Rechte stoßen auf Unwillen, zumindest aber sind sie lästig.
Demokratie ist in Estland eben noch nicht angekommen, da mögen einzelne, Gutwillige nichts daran ändern.

Nachdem ich weiter mit Herr Dornemann korresprondiert habe, bekam ich folgende E-Mail von ihm:

Lieber Herr Klotz,

nun ist es ja lieb von Ihnen, auch estnische Menschen zu interessieren, doch leider wird es nichts brimgen, weil kein Interesse vorhanden ist. Ich lebe jetzt fast sechs Jahre hier und ich weiß wovon ich rede. Das Gegenteil ist der Fall; also hat sich auch noch niemand bei mir gemeldet, ich erwarte das auch nicht.
Das Büro Semjonov (Anm. des Bloggers: Informationszentrum für Menschenrechte www.lichr.ee) für ist nicht gerade eine einflußreiche Institution hier in Estland, dazu schmoren sie zuviel in kleinkarierten Problemen, anstatt selbst agressiv in die Öffentlichkeit zu gehen. Das Büro ist nirgendwo bekannt und schon garnicht gefürchtet. Herr Semjonov ist mir mehrere Male begegnet, er hat noch nichteinmal auf meinen Gruß geantwortet.
Meinen Brief dürfen Sie gerne veröffentlichen, werde ich doch nun selbst eine neue Kampagne für die Menschlichkeit starten, ist doch, wie schon gesagt, das demokratische Verständnis bei der Bevölkerung hier nicht mehr entwickelt als in Uganda und noch längst nicht in Estland angekommen.
Zu meinen Aktivitäten werde ich Sie natürlich auf dem Laufenden halten.

Zu lichr.ee kann ich noch sagen, dass sie von der estnischen Regierung verklagt wurden, weil sie angeblich Unterstützung von der EU und dem russischen Auswärtigen Amt beziehen und es wohl Unkorrektheiten bei der Deklaration der Unterstützung aufgetreten wären, aber es ist auch nicht der erste Angriff der Regierung gegen die einzige Stelle, die ihre Hilfe den Opfern der Bronzenen Nacht angeboten hat. So wurde im Bericht der KAPO (estnische Geheimpolizei) erwähnt, dass die Hälfte der Mitarbeiter des Büros Mitglieder in der russlandfreundlichen (aber nicht verbotenen) Konstitutionellen Partei wären. Sofort wurde vom Büro richtiggestellt, dass nur ein freier Mitarbeiter Mitglied in der Konstitutionellen Partei ist, aber wo die Lüge in die Welt gesetzt wurde, wird man sie auch nicht wieder los.

Sonntag, September 02, 2007

Eine Woche Estland

Endlich habe ich es geschafft für eine Woche nach Estland zu gehen und mit eigenen Augen zu sehen, worüber ich die ganze Zeit so schreibe. Vieles ist beim Alten geblieben (das letzte Mal war ich dort vor 2 Jahren), einiges hat sich in Tallinn äußerlich geändert (ein paar neue Wolkenkratzer und Shoppingzentren, gähn), aber wie es so schön heisst, es sind die inneren Werte die zählen, viele Gespräche mit verschiedenen Leuten, ich versuche mal zusammenzufassen:

1. Die zwei am heissesten diskutierten Themen ist absoluter Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen, wie Restaurants, Discos und Cafés und Verbot von Alkoholverkauf in den Läden ab 20.00. Bis jetzt wird das Rauchverbot streng durchgezogen (selbst Zigarren- und Wasserpfeifenbars haben komplett leergefegte Nichtraucherräume und proppenvolle Raucherzimmerchen), alle gehen zum Rauchen raus, auch wenn es regnet. Einige Cafés blicken es noch nicht ganz, dass vor den Eingang grosse Aschenbecher gehören und dass man nicht unbedingt das Café schon verlassen und seine Sachen vergessen hat, vielleicht ist man nur zum Rauchen rausgegangen. Natürlich passieren die interessanten Geschichten draussen, von denen die armen Nichtraucher nichts mitkriegen. Ausserdem ist bald Winter, man darf gespannt sein, wie viele Raucher sich lieber eins draussen abfrieren, als aufzugeben. Interessanterweise darf in Kasinos gequalmt werden (wie dick war der Geldkoffer?), so dass man durchaus in Kasino geht, um dort eins zu trinken und gemütlich zu rauchen. Das man ganz schnell beim Spielen ist, ist eine andere Geschichte.

Was Alkoholverkauf angeht, natürlich kursieren schon Geheimtipps, in welchem kleinen Lädchen in Lasnamäe das Verbot umgangen wird, Autobesitzer können immer noch sich ausserhalb von Tallinn eindecken und wenn es gar nichts mehr geht, verkaufen die Bars und die Restaurants durchaus ein Fläschchen oder zwei, wenn auch zum 2-3-fachen Preisen. Also scheint dieser Verbot nur Touristen zu betreffen, die sich nicht mehr auf Hotelzimmern und auf der Strasse, sondern nur in Bars abschiessen dürfen.

2. Das progressivste Café in ganz Tallinn ist wohl Café Moskwa. Wer "in" sein möchte öffnet sein schickes neues Apple IBook und zeigt stolz, was er in den letzten 24 Stunden an Websites designed hat. Die Bedienung versteht grundsätzlich nur Estnisch oder Englisch (ein Trend, der in der nächsten Zukunft sich wohl noch verstärken wird, die junge Generation kann schlicht und einfach kein Russisch mehr), AMEX und Maestro werden nicht akzeptiert, wo die Toiletten sind wissen nur Insider (kein Schild), ausserdem sind sie nicht durch Türen nach Männlein und Weiblein getrennt.

3. Eine sehr interessante Neueröffnung ist der KUMU, das estnische Kunstmuseum. Ich war positiv überrascht über die frische Art Kunst dem Publikum näherzubringen. Das Gebäude hat verdient mehrere Architekturpreise gewonnen. Zwei Ausstellungsstücke sind mir besonders in Erinnerung geblieben: eine Halle voll mit unterschiedlichen Büsten von bekannten und unbekannten Persönlichkeiten und jede von ihnen scheint ihre Geschichte erzählen zu wollen, so dass ein Stimmengewirr entsteht, der dem Raum eine sehr spannende eigene Atmosphäre verleiht. Und eine Videoinstallation über die Beschwerdechöre dieser Welt.

4. Ausstellung einer etwas anderen Art war das Okkupationsmuseum. Sehr akkurat wurden dort Fakten gesammelt und dargestellt, die über die Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert erzählen. Mit zwei Fakten war ich nicht einverstanden, nämlich die Behauptung, dass die Rote Armee bei der ersten Besetzung Estlands 1939 eine freiheitliche und demokratische Regierung beseitigt hat. Seit wann ist eine Diktatur unter "Präsident" Pärts demokratisch? Die zweite Behauptung war, dass unter der deutschen Besatzung die estnische Bevölkerung weit weniger zu leiden hatte, als unter sowjetischen. Für die estnische Bevölkerung mag das gegolten haben, aber definitiv nicht für die jüdische oder die russische Bevölkerung dieser Zeit. Meiner Meinung nach ist die Bezeichnung "Okkupationsmuseum" viel zu populistisch und reisserisch für diese Ausstellung. Oder was haben der erste sowjetische Fernseher, viele alte Radios, ein verrosteter Autowrack von einer Invalidka mit "Okkupation" zu tun? Ein Kommentar meines Freundes, der mir genau erklären konnte, wie KGB Telefongespräche abgehört und aufgezeichnet hat: "KAPO (die estnische Geheimpolizei) macht es heutzutage genauso". Mit einem Wort für westlichen Touristen und Nostalgiker ganz nett.

5. Ein Wunsch an die estnische Regierung, anstatt Steuern zu senken, repariert erstmal die öffentliche Infrastruktur, vor allem die Strassen. Es bringt nichts Immobilienpreise wie in München zu haben, ohne die Häuser bequem erreichen zu können. Momentan kann man die Strassen in drei Klassen unterteilen:
- neugebauten Strassen, verlegt durch ehemalige Fabrik- oder Kasernengelände, gut ausgebaut, gut asphaltiert, gute Abkürzungen, ständig vollgestopft (Moskauer Verhältnisse)
- normale alte Strassen (verlegt zu Sowjetzeit) Flickenteppich, bei ein bisschen Regen eine einzige Wasserfläche, als nichts ahnender Fussgänger wird man von Kopf bis Fuss vollgespritzt, wenn man an so einer Strasse entlanggeht
- Zufahrtsstrassen zu einzelnen Wohnblocks, es wird nichts geflickt, eigentlich bräuchte man ein Geländewagen, um über die Löcher zu fahren, vor den schlimmsten Löchern (also denen, die über der Kanalisation verlaufen und das Auto reinfallen könnte), steht immerhin ein Warnschild.

6. Noch ein Wunsch an die estnische Regierung, denkt weniger wie Engländer, sondern mehr wie Skandinavier. Im Unterschied zu Estland wissen die Engländer, wie man die Immobilienpreise hochhält und dadurch die Wirtschaft weiter rundläuft, immer wenn die Preise zu fallen drohen, werden viele Ausländer ins Land gelassen (Inder, Pakistaner, Hongkong-Chinesen, Polen), die als billige Arbeitskräfte auch Wohnraum brauchen. Die Immobilienpreise in Estland scheinen ihren Peak erreicht zu haben und fangen an abzurutschen. Es herrscht Überangebot an Wohnraum und es werden wohl keine Ausländer angeworben, die ihn bewohnen könnten. So werden die Esten doppelt bestraft, nicht nur, dass sie viel zu viel für ihre eigene Wohnung bezahlt haben, noch kommt die Wirtschaft in stocken, weil billige Arbeitskräfte fehlen. Alle schimpfen, dass sie zu wenig verdienen, die Lebenshaltungskosten steigen (das habe ich auch bemerkt), aber die Produktion immer gleich bleibt, weil Impulse fehlen, wie man sie steigern könnte. Um an billige Arbeitskräfte bei gleichbleibenden Angebot zu kommen, werden die Arbeitgeber erfinderisch, so wird die neue Nähfabrik gleich in Lasnamäe gebaut mit dem Kalkül, dass die ärmere russische Bevölkerung dort zu niedrigeren Löhnen arbeiten könnte. Bewerbungsposter für McDonalds werden auf Estnisch gar nicht mehr aufgehängt, nur noch auf Russisch. Überhaupt scheint der kostensensitive Dienstleistungssektor für Absatz von Standartdienstleistungen oder Discountverkauf fest in russischen Hand zu sein.

7. Parallelgesellschaft. Nirgends ist dieser Terminus wahrer als in Estland. Alle meine Freunde mit denen ich gesprochen habe, sprechen zwar gutes Estnisch, aber nur dort wo sie es unbedingt müssen (auf der Arbeit, im Laden). Privat wird ausschliesslich Russisch gesprochen, man ist unter sich. Alle sind der Meinung, dass die Bronzenen Nächte ein einschneidendes Erlebnis für sie waren (O-Ton: Jetzt haben wir gesehen, wie sehr sie uns hassen). Alle hassen Ansip, allerdings sind auch alle der Meinung, dass Russland ihnen ein wahres Bärendienst erwiesen hat und was "Naschi" (aka Putinjugend) vor der estnischen Botschaft angerichtet haben, absolut peinlich und unnötig war. Alle möchten nur ihre Ruhe haben und keinesfalls eine Wiederholung der Ereignisse. Alle sind auch recht skeptisch was rein russische Parteien oder politische Strömungen betrifft. Wie unter solchen Umständen eine Friede-Freude-Eierkuchen-Integrationspolitik durchgeführt werden kann, ist mir schleierhaft.

Subjektiv hört man mehr Russisch auf den Strassen, es kursieren Statistiken, dass Tallinn inzwischen bis zu 60% russisch-sprachig geworden ist, also Verhältnisse wie in Lettland, wo in grossen Städten die russisch-sprachige Minderheit überwiegt. Vielleicht sind sie auch nur sichtbarer geworden, sei es der Busfahrer, der russisches Radiokanal laut laufen lässt oder die Horde russisch-sprachiger Jugendlicher, die auf Russisch laut losproletet.

8. Was den Bronzenen Soldaten selbst angeht, der neue Platz an sich ist meiner Meinung nach gar nicht schlecht. Es ist recht abgelegen, allerdings ist der Militärfriedhof wo hunderte Angehörige der sowjetischen (und anderen) Armeen ihre letzte Ruhe gefunden haben ein sehr passender Platz für diese Art von Monumenten. Alle, die ich gefragt habe, bestätigten mir auch, dass die Verlegung an sich für sie noch kein Affront war, nur die Art der Verlegung und die Verunglimpfungen davor absolut untragbar gewesen sind. Interessant ist es, ob am nächsten 8/9 Mai die estnische Regierung wieder einen Kranz zu Füßen des Soldaten legen wird, oder ob es ein einmaliger Akt gewesen war.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass es sehr schön war alte Freunde wiederzusehen (hoffe sehr, dass wir uns noch oft wiedersehen werden), für Tallinn selbst hatte ich weniger Nostalgie übrig, als ich mir vorgestellt habe. Nur das Meer war so schön wie immer. Ich werde weiterhin über Estland schreiben, allerdings sieht es momentan nicht so aus, als ob in der nächsten Zeit, sich was sehr Weltbewegendes ereignen würde.