Sonntag, Juli 15, 2007

EU, Estland und Russland

Im heutigen Betrag beschreibe ich das Verhältnis zwischen der EU, Estland und estnischen Beziehungen zu Russland und eigener russisch-sprachigen Minderheit. Zweifellos war der Betritt Estlands zur EU eine der wichtigsten Geschehnisse in estnischen Geschichte überhaupt, Estland hat ihren Platz in Europa eingenommen, vielleicht vergleichbar wie vor mehreren hundert Jahren Tallinn (damals Reval) einen festen Platz im Hansa-Bund einnahm. Wirtschaftlich hat Estland zweifellos gewonnen. Der unvergleichbare ökonomischer Boom der letzten Jahre (um die 10% Wirtschaftswachstum per annum) ist auch damit zu begründen, dass Estland zuerst Beitrittskandidat und dann Vollmitglied der EU geworden ist, also zur gemeinsamen europäischen Wirtschaftszone gehört und damit erstens Investitionen anlockt und zweitens für Vertrauen der Bürger gesorgt hat, die für einen sehr hohen Konsum sorgen. Zwar sorgen die Auswüchse der europäischen Bürokratie auch in Estland zuweilen für Unverständnis (Strafzahlungen wegen Zuckerbeständen, Lieferungen von Tonnen an Nudeln), doch kaum jemand wird bezweifeln, dass die Mitgliedschaft Estlands in EU von eindeutigem Vorteil für das Land ist. Die Integration geht auch weiter. Nächstes Jahr wird Estland voraussichtlich zum Mitglied des Schengen-Abkommens, die Grenzen werden noch durchlässiger, der Euro wurde zwar (voraussichtlich) auf 2011 verschoben, aber es ist die Frage, ob in momentaner wirtschaftlichen Situation Euro Estland von Nutzen ist, denn die relativ hohe Inflation der Krone sorgt zum Beispiel dafür, dass die überschuldeten Haushalte eher die Kredite zurückzahlen können.

Doch wie sieht die politische Seite der Mitgliedschaft Estlands aus, besonders in Hinsicht auf den Konflikt mit Russland und den Spannungen mit der russisch-sprachigen Minderheit aus? Es ist interessant zu beobachten, dass die politischen Auseinandersetzungen mit der russisch-sprachigen Minderheit nicht im Land selbst, sondern eher gleich auf der europäischen Ebene ausgetragen wird. Vielleicht ist es damit zu begründen, dass es keine wirkliche Vertretung des kritischen Teils der russisch-sprachigen Minderheit in der estnischen Politik gibt? Abgeordnete des estnischen Parlaments, die als "Vertreter" der russisch-sprachigen Minderheit gerne in Diskussionen erwähnt werden wie Tatjana Muravjova oder Igor Grjasin oder Michael Lotman sind keinesfalls als kritisch einzustufen. Die Zentralisten-Partei wird erreicht zwar in Tallinn und Ida-Virumaa hohe Zustimmung, allerdings ist ihre Kritik eher als Teil der Taktik des Parteikampfes gegen die Reformistenpartei anzusehen, denn grundlegende Änderungen, wie vereinfachte Staatsbürgerschaft, Anerkennung der russischen Sprache als zweite Staatssprache, Erhaltung der russischen Schulen und Kultur fordern sie auch nicht. Nicht umsonst klagten estnische Politiker nach der Bronzenen Nacht, dass es auf der russisch-sprachigen Seite niemanden gibt, mit dem sie sich zusammensetzen könnten, sämtliche Führungsfiguren der Minderheit sind systematisch entmachtet worden.

Deswegen findet die Auseinandersetzung eher im Europäischen Parlament statt. Dort sitzt Tatjana Ždanok als Mitglied der Grünen Fraktion für Lettland in Europaparlament, die die einzige Vertreterin der russischen Minderheit in Europa ist. Ihren Angaben zufolge sind es über 6 Mio Menschen, also ca. 7-Mal mehr als 800.000 ethnischen Esten, die jedoch zahlreicher in Europaparlament vertreten sind. Tatjana Ždanok ist es z.B. zu verdanken, dass das Problem der Reisefreiheit für die Staatenlose Aufmerksamkeit im Europaparlament gefunden hat mit dem Ergebnis, dass ab Februar auch Staatenlose kein Visum mehr für die Reisen in EU-Länder mehr brauchen. Nach den Ereignissen der Bronzenen Nacht ist es ihre Stimme, die die Missstände bei der Aufarbeitung der Geschehnisse anklagt. Doch eins nach dem anderen.

Am 24.05 hat das Europäische Parlament mit 460 "Für"-Stimmen gegen 31-"Gegen"-Stimmen und 38 Enthaltungen eine Resolution verabschiedet, die die Estnische Regierung unterstützt und Russland verurteilt und aufruft die Wiener Konvention über die Diplomatische Vertretungen in allen Punkten zu beachten. Dies war die Reaktion auf die Blockade der estnischen Botschaft in Moskau von der Regierung nahestehenden Jugendorganisationen "Naschi" und anderen. Ausserdem verurteilt die Resolution eine "eindeutig feindliche Rhetorik" der russischen Führung und den Versuch ökonomischen Druck als außenpolitisches Mittel auf Estland auszuüben. Europaparlament ruft ferner die Regierung Russlands auf einen "offenen und vorurteilsfreien Dialog" mit den Mittel- und Osteuropäischen Ländern zu führen, die auch die Themen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen des totalitären Kommunismus betreffen. Zum Schluss wird der Aufruf des estnischen Präsidenten Toomas Ilves begrüßt den innerestnischen Dialog zu aktivieren, um die Teilung zwischen den Gemeinden zu überwinden und neue Integrationsmöglichkeiten für die russisch-sprachigen Bewohner Estlands zu schaffen. Zu dem Vorgehen der Sicherheitskräfte wurde nur erklärt, dass der Justizkanzler Estlands keine Rechtsvergehen der Sicherheitskräfte festgestellt hat.

Um dieses Dokument zu bewerten sollte man sich die Liste deren ansehen, wer diese Resolution aufgesetzt hat. Von 26 Autoren ist die absolute Mehrheit aus den baltischen Ländern und Polen, also den Ländern, die die Haltung estnischen Regierung in diesem Punkt unterstützen. Ausserdem unterscheidet das Dokument nicht zwischen zwei verschiedenen Punkten, die Geschehnisse innerhalb Estlands und die Reaktion Russlands. Bei der Beurteilung der Reaktion Russlands hat EU kein Spielraum, sämtliche Aggressionen fremden Staates gegenüber einem Mitglied sind als Angriff auf die gesamte EU zu bewerten und entsprechend zu verurteilen. Hans-Gerd Pöttering, der Präsident des Europaparlaments sagte dazu folgendes: "EU basiert auf Werten. Verteidigung dieser Werte ist unsere gemeinsame Aufgabe. Dort, wo auf ein Land der EU Druck ausgeübt wird, müssen wir alle auftreten, damit mit uns gerechnet wird. Estland kann auf unsere Solidarität zählen." Ob diese Solidarität unendlich gilt, ist eine andere Frage. Insbesondere Polen wurde schon oft daran erinnert, dass in ihrem Konflikt mit Russland wegen der Fleischlieferungen die EU zwar auf ihrer Seite steht, wegen dem Verhalten der polnischen Regierung während des jüngsten Gipfels kann sich das auch ändern. Der Vorschlag von litauischen Politikers die Verhältnisse mit Russland nicht als strategisch zu betrachten, obwohl Russland einer der wichtigsten Handelspartners mit der EU ist, löst ein lautes Stöhnen bei den westeuropäischen EU-Politikern aus und selbst der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier drückt inzwischen Bedauern aus, dass während dem deutschen EU-Vorsitz kein Partnerschaftvertrag mit Russland erneuert werden konnte und zwar wegen dem Fleisch-Streites mit Polen und Bronzenen Nacht in Estland. "Als Europäer müssen wir ein grosses Interesse haben den Partnerschaftsvertrag mit Russland zu beschliessen" sagte Steinmeier. "Nur dann kann EU eine Stimme gegenüber Russland haben".

Wenn die Position EUs zum Verhältnis zwischen Estland und Russland bislang offiziell eindeutig ist, ist sie es zu den Geschehnissen während der Bronzenen Nacht in Estland selbst keinesfalls. Dafür sorgt die bereits früher erwähnte Tatjana Ždanok. Am 26. Juni, Tag des Gedenkens der Folteropfer, veranstaltete sie eine Pressekonferenz mit den Opfern der Polizeigewalt während der Unruhen und sie erzählten ihre Erlebnisse den Journalisten und Parlamentariern. Im Vorfeld der Veranstaltung kam es zu einer Aktion der Parlamentariern aus Estland (insbesondere Katrin Saks), die folgendes Flugblatt ausgeteilt haben. Besonders frech ist die letzte Behauptung, dass die "Organisatoren" der Ausschreitungen Dimitri Linter und Maksim Reva in Freiheit sind, das ist definitiv nicht wahr. Ausserdem wurden die Plakate, die über die Veranstaltung informiert haben, runtergerissen. Katrin Saks gab auch eine Interviews den estnischen Massenmedien in den sie behauptet hat, dass nur wenige Leute an der Veranstaltung teilgenommen genommen, Kommunisten aus Irland, Vertreter der Basken, sowie Spione, die sich als Diplomaten ausgegeben haben. Dazu muss man auch wissen, dass die Frau früher als Ministerin für Bevölkerungsentwicklung für die Integration der Minderheiten zuständig war.

Zum Schluss noch ein Kommentar zum Interview von Toomas Hendrik Ilves, den er "Spiegel" gab. Darin erklärt er eigentlich recht deutlich, wie die osteuropäischen Politiker ticken und was sie erreichen wollen. Einige Zitate:

Ilves: Yes, in fact we do want to rewrite history. We want to rewrite Soviet history books. We want to fill in the gaps. Soviet history books contain just a single line about the Gulags, stating only that the camps were abolished. This means that the deportation of 30,000 Estonians to the Soviet Union on a single day in 1941 is being deliberately suppressed.

Das erinnert doch sehr an die polnische Regierung, die die Kriegstoten des 2. Weltkrieges als Argument gebracht hat, um mehr Einfluss bei der Verteilung der Stimmen zu bekommen. Was will man dadurch erreichen? Entschädigungszahlungen?

Ilves: If you tell me that the Nazis were worse, then I would say to you that you are comparing the culinary habits of cannibals. I will not say who was worse. When it comes to the number of people murdered, I believe that the communists killed more people. Some say the Nazis were worse because the ideology behind their murders was worse. But for Estonians, our people were not murdered by communists or Nazis, but by Germans and Russians. The question of which ideology the murderers had is irrelevant to us.

Die Esten blenden bis heute aus, dass es auch Esten waren, die Esten, Weissrussen, Russen, Deutsche, Juden getötet haben. Die gesamte Nation sieht sich als unschuldiges Opfer der Ideologien. Es ist ja nicht so, dass die Esten niemals Anhänger einer Ideologie waren.

SPIEGEL: But there is an ongoing dispute over why Russian is not an official language in Estonia.

Ilves: Why should it be?

SPIEGEL: Because at least a quarter of the population are Russians.

Ilves: They're welcome to speak Russian. But in light of the experiences we had during the occupation -- when Russian was the official language and there were no doctors or civil servants who spoke Estonian -- not a single Estonian would vote for a government that plans to change this.

Das ist eine glatte Lüge. Es gab sowohl estnische Ärzte, estnische Beamte, estnische Schulen, estnische Kindergärten, estnische Vorlesungen an der Uni, estnische Singwettbewerbe...

SPIEGEL: But many Russians in Estonia feel like second-class citizens because, without a passport, they don't even have the right to vote in parliamentary elections.

Ilves: They have more rights than non-citizens in most other countries. First of all, because they can vote in local elections. And secondly, because -- if they truly want to vote -- it's very easy to become an Estonian citizen. We have much more liberal citizenship laws than Germany, Finland, Sweden and Denmark -- not to mention Switzerland and Austria.

Auch das ist schlichtweg falsch. Am 27.06 hat die Europäische Kommission Estland benachrichtigt, dass die Direktive 2000/43/Ce gegen die Diskriminierung wegen Rassen- oder Geschlechtzugehörigkeit ratifiziert werden muss. Momentan verletzt die Gesetzgebung Estlands diese Direktive und die Direktive über den Schutz der nationalen Minderheiten. Die Umsetzung dieser Direktive würde nach Worten des Mitglieds des estnischen Parlaments Vladimir Welmans Erleichterungen beim Gesetz der Staatsangehörigkeit mit sich bringen, gegen die sich die estnischen Politiker sperren. Unter anderem könnte es bedeuten, dass die 200000 bisher staatenlose Bewohner Estlands plötzlich Anrecht auf die estnische Staatsangehörigkeit hätten, was die jetzige politische Elite unter allen Umständen verhindern möchte.

Ilves: People respect Germany because it is a reputable country that behaves in a normal and democratic way. It's a rich country. Russia, on the other hand, they respect out of fear.

Und genau aus diesem Grund ist Russland mit zum größten Handelspartner der EU aufgestiegen. Vielleicht spielt Angst wirklich eine Rolle, Angst nicht dabei zu sein, bei der Nutzung der Rohstoffe aus Russland, bei der Befriedigung des grossen Konsumhungers der immer reicher werdenden Teilen der Bevölkerung, bei der Vergabe der Industrieaufträge.

SPIEGEL: Are you under the impression that the new EU countries with their unique historical experiences are not taken seriously in Western Europe?

Ilves: Yes. One cannot simply extinguish people's memories in these countries. A common trait among the new EU countries is their pro-American stance, which results from their fear of Russia. It generates great resentment when people who don't know Russia try to tell people who have experienced Russia at first hand what Russia and the Russians are like.

Noch deutlicher geht es nicht. Die osteuropäischen Länder vertreten die Interessen der USA und nicht die Interessen der EU. Anstatt Kontakt zu Russland zu haben und Vermittlerrolle zu übernehmen, sieht es so aus, als wenn sie selbst Vermittler brauchen.

Aber vielleicht gibt es eine gute Erklärung dafür, warum Estland es nötig hat, sich zum Gegenspieler Russlands aufzuspielen. Ohne diesen Konflikt, der meiner Meinung nach noch bei weitem nicht ausgestanden ist, droht Estland sich in eine kleine, schnell aussterbende europäische Provinz zu verwandeln, die nur von dem Ruhm lebt "Skype" programmiert zu haben. Doch durch den Konflikt mit Russland ist Estland ein Vorposten der Westens gegen den Osten, folglich die Aufmerksamkeit und Geld der EU und der NATO sind garantiert. Wie schon der ehmalige estnische Botschafter in Russland Mart Helme schon 2003 sagte: "Unseren Platz in Europa haben wir schon 1242 festgelegt als die Führer des estnischen Volkes mit ihren Kriegern einen Grossteil des deutschen Heeres stellten bei der Eisschlacht gegen den Aleksander Nevski." Dem ist nur wenig hinzuzufügen.